In der kollektiven Wahrnehmung und Erinnerung im Mittelalter war die Begegnung mit Seuchen, aber insbesondere mit der Pest (pestis), auch plaga genannt, für Menschen aller gesellschaftlichen Gruppen eine traumatisierende Erfahrung. Für die historische Region Livland ist diese Erfahrung für den Zeitraum von 1411 bis 1430 in relativ hoher Dichte dokumentarisch nachweisbar. Der Umgang mit der Wirklichkeit vom „großen Sterben“ der Menschen, weil sie zum Opfer der Pest wurden, weckte in der apokalyptischen Erwartung gewurzelte Ängste und den Verdacht einer verletzten Ordnung, die den Zorn Gottes geweckt haben soll. Diese Art der Deutung des Geschehens wirft heute Fragen auf: Nicht nur nach typischen, etwa biblisch geformten Mustern von Auslegungen, sondern auch nach den Formen und Netzwerken ihrer Vermittlung (Gerüchte etc.). Welche sozialen Techniken entwickelten die Menschen in und außerhalb von urbanen Gemeinschaften, um ihre Ängste angesichts des nahenden Todes zu mäßigen (sprachlich, emotional)? Wie begegneten die Menschen zum einen der Plage, die sie öfters Pest nannten, die aber jegliche Form von einer aggressiven Viruskrankheit gewesen sein konnte, um sich vor dieser zu schützen, sowie zum anderen der sozialen Krise, die unausweichlich folgte, um auch diese zu vermeiden oder zu bewältigen? Für das mittelalterliche Livland sind diese und zahlreiche andere Fragen zur „Pest- bzw. Seuchengeschichte“ als Sozial- und Kulturgeschichte noch offen. Aus aktuellem Anlass der Pandemie im 21. Jahrhundert wird diese Thematik auch wegen der aufgeworfenen Fragen etwa zu den Wahrnehmungen, historisch und kulturell verankerten Vorstellungen und vor allem der Reaktionen diverser Interessengruppen in der vernetzten Welt von großer Bedeutung sein.
Andris Levans ist Professor an der Universität Lettlands Riga und Leiter des Departments Geschichte und Archäologie.
Zeit: 08.06.2021, 17.15 Uhr
Ort: digital (https://bbb-greenlight.uni-rostock.de/b/hel-u99-x3j-wl5 )