Der Rückblick der Bereisten. Konsequenzen des Grand tour in Literatur und Publizistik Italiens (18./19. Jahrhundert)

Prof. Dr. Stephanie Wodianka

Das Erkenntnisinteresse dieses Forschungsprojektes ist bezogen auf ein kulturelles Phänomen, dessen Vorläufer ins 16. Jahrhundert reichen und das im 18. und 19. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte: Der „Grand tour“, die Konjunktur einer Bildungsreise, die zunächst Aristokraten, dann aber auch Gelehrte und schließlich Bürgerliche Europas, vor allem aus England, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, aufbrechen ließ. Jeweils entsprechend bestimmten, sich wandelnden Konventionen und Bildungszielen, folgte man Reiserouten quer durch Europa und – selten – auch darüber hinaus.

                                   

Literaturwissenschaftlich relevant ist der Grand tour als kulturelles Phänomen deshalb, weil erstens eine reiche apodemische Literatur entstand, d. h. theoretische und didaktische Texte, die sich mit Gestaltung und Zielsetzung des Reisens auseinander setzten. Zweitens wurde der Grand tour literarisch wirksam, weil die Reisenden der Konvention gemäß in großer Zahl Reiseberichte verfassten, die von mehr oder weniger großem literarischem Anspruch getragen waren und unterschiedliche Fiktionalitätsgrade aufweisen. Die Reiseberichte waren dabei präformiert vom Einfluss der Apodemiken, und daraus ergibt sich der dritte Aspekt, der die literarische Relevanz des Grand tour begründet: Reiseberichte sind nicht nur eine Auflistung von Sehenswertem und Gesehenem, sondern implizierten auch eine Anleitung zum Sehen bzw. reflektierten Wahrnehmungsästhetiken, die von der ‚Kunst des Reisens’ geprägt und getragen wurden. Die reisetheoretische Literatur versuchte zu lenken, was der Reisende sah, wie er es wahrnahm und deutete und wie er das Gesehene und Erlebte anschließend schriftlich darstellte. Reise, Reiseerleben, Reisebericht und Reisedeutung waren deshalb nicht per se von Unmittelbarkeit und Subjektivität, sondern auch von Konventionalität und Normen geprägt. Dieser Befund schließt die literarische Inszenierung von Unmittelbarkeit und subjektivem Erleben nicht aus, sondern begründet ein Paradox, das literarisch produktiv und für die Reiseliteratur sogar konstitutiv wurde.

 

Auffällig ist, dass es in den Literatur- und Kulturwissenschaften zwar eine kaum überschaubare Forschung zur europäischen Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts gibt, die sich vor allem mit Mme de Staëls „Corinne ou l’Italie“, Goethes „Italienischer Reise“ sowie mit Autoren wie Hamilton, Chateaubriand und Stendhal als prominenten Italienreisenden auseinandersetzt, dass aber die italienische Seite der Medaille im Kontext der europäischen Reiseliteratur selten betrachtet wird. Immer wieder wird die weitreichende Bedeutung des Reisephänomens für Poetiken der Beschreibung und für das literarische, kulturelle und individuelle Selbstverständnis der Autoren in Frankreich, Deutschland und England betont. Unstrittig ist, dass Italien in den literarischen Reiseberichten als der Höhepunkt des Grand Tour galt. Weit weniger Beachtung findet hingegen in der Forschung die Frage, welche Spuren die Reisekonjunktur des 18. und 19. Jahrhunderts in der italienischen Literatur der Zeit hinterlassen hat, also in der Literatur desjenigen Landes, das am intensivsten mit Reisenden konfrontiert war und sich immer wieder in den Reiseberichten gespiegelt sah. Auch die Reiseliteratur italienischer Autoren findet bislang kaum Beachtung, sie ist auch nur ansatzweise systematisch erfasst, obwohl nicht nur französische, deutsche und englische, sondern auch italienische Gelehrte, Aristokraten und später auch Bürgerliche Italien reisend erkundeten und Reiseberichte niederlegten. Die Bedeutung der Reisekonjunktur für die italienische Literatur, für die Etablierung und literarische Gestaltung eines möglichen Selbstverständnisses als das „reisende und bereiste Andere“ im Sinne des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung, scheint somit noch auf eine nähere und vergleichend perspektivierte literaturwissenschaftliche Untersuchung zu warten – eine Untersuchung, die der Überzeugung Rechnung trägt, dass die Reisekonjunktur nicht nur das Verhältnis Europas zu Italien, sondern auch das kulturelle Selbstverhältnis des bereisten Italien geprägt haben dürfte.

 

Vor dem Hintergrund dieser Vorarbeiten sollen italienische literarische und publizistische Texte des 18. Und 19. Jahrhunderts im Hinblick auf drei Aspekte untersucht werden:

  • Erstens im Hinblick auf mögliche Inszenierungen des „Rück-Blickes“ der Bereisten – inwiefern zeigen die Texte des Untersuchungszeitraumes eine (affirmative oder opponierende) Erwiderung des europäischen Reiseblickes auf Italien, auch schon vor dem Verismo, dessen Literatur v.a. in bezug auf Süditalien Ende des 19. Jahrhunderts eine (in Ansätzen auch schon erforschte) Kritik der ‚picturesquen’ Reisekultur erkennen lässt? Gibt es in literarischen und publizistischen italienischen Texten der Zeit Anhaltspunkte dafür, dass der ‚passiven’ Rolle der Bereisten eine ‚aktive’ italienische Rolle oder Perspektive entgegengesetzt wurde, die als wahrnehmungsästhetische Conversio zu verstehen ist?
  • Zweitens im Hinblick auf Einforderungen eines individualisierten Betrachtetwerdens jenseits des konventionellen, zunehmend klischeehaften Sicht der Grand-touristes. Besonders prominenter Vertreter der Verweigerung eines dem Individuellen Rechnung tragenden Reiseblickes auf das bereiste Objekt ist Johann Wolfgang Goethe – inwiefern lassen sich Kritik oder Reflexionen bzgl. dieser oder ähnlicher Haltungen ausmachen?
  • Drittens im Hinblick auf kulturelle Selbst-Sichten Italiens bzw. der Italiener, die sich als Reaktion auf den Status als „Bereiste“ deuten lassen. Inwiefern beförderte oder beeinflusste die Reisekonjunktur den Einigungsprozess Italiens, im Sinne einer literarisch manifesten, kulturellen Identitätskonstruktion, möglicherweise in Abgrenzung vom nach Italien reisenden restlichen Europa? Inwiefern empfängt der Blick der (reisenden) Italiener von der Reisekultur bzw. europäischen Reiseliteratur Impulse für die Sicht auf die eigene Kultur / Literatur?

 

Das Projekt setzt sich auf diese Weise zum Ziel, innerhalb eines bereits weit und tiefgründig bearbeiteten Feldes neue, spezifisch italianistische und zugleich komparatistisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven eröffnende Akzente zu setzen: Reisekultur ist damals wie heute nicht verkürzend zu betrachten als die Kultur der Reisenden, sondern auch in ihren Konsequenzen für die Kultur der Bereisten.

 

Mögliche Dissertationsthemen:

  1. Blick-Richtungen und Sehepunkte: Ästhetische Konstruktionen des Kulturkontakts in der Lyrik / Erzählliteratur des Risorgimento.
  2. Sehen und Gesehenwerden: (italienische) Rezensionen von Reiseberichten über Italien
  3. Italianità? Europäische Konjunkturdiskurse kultureller Sichtbarkeit zwischen Literatur, Wissenschaft und Publizistik.