Alte und neue Diasporagemeinschaften in Südasien, Afrika und Europa

Prof. Dr. Jakob Rösel

Dieser Forschungsschwerpunkt ist dem Studium alter und neuer Diasporas gewidmet. Der Begriff Diaspora bezeichnet hier Gruppen, die ihr historisches und kulturelles Selbstverständnis und ihre Identität grundsätzlich aus drei Erfahrungsbereichen gewinnen: Sie stützen ihr Selbstverständnis und ihre Identität auf ihre Beziehungen zu ihrem Ursprungsland, zu ihrer lokalen Gemeinschaft und zum Gastland und schließlich zu den weiteren, der Diaspora zugehörigen, oft weithin verstreuten Diasporamitgliedern. Die Beziehungen, auf die sich dieses Identitätsmuster gründet, können intensiv oder weniger intensiv, im Falle des Bezugs auf das Ursprungsland sogar weitgehend imaginiert sein. Entscheidend ist, dass die Gruppe sich in Bezug auf diese drei Dimensionen der Herkunft und Abwanderung, der Residenz und Lokalkontakte und des internationalen Austauschs mit Verwandtschafts- oder Gruppenangehörigen historisch, kulturell und sozial definiert.

 

Indische Diasporas

Für die Beobachtung und Analyse von alten und neuen Diasporagemeinschaften und -netzwerken bildet Südasien seit mehr als zwei Jahrtausenden ein fast einzigartiges Anschauungsmaterial und Untersuchungsfeld. Einerseits die Vielfalt und Spezialisierung der indischen Kasten- und Sektengesellschaft, andererseits die Entwicklung des Monsun- und Karawanenhandels, also die Entstehung eines bis nach Zentralasien und bis nach Hinterindien reichenden "Greater India" ließen frühzeitig komplexe Diasporanetzwerke entstehen. Buddhistische Händler(kasten) begründeten entlang der Handelsstraßen nach und in Zentralasien Handelsstützpunkte und Karawansereien. Diese anfänglich indo-buddhistische Diaspora trug in Konkurrenz und in Kooperation mit anderen Diasporanetzwerken zum Ausbau der Seidenstraße bei. In Hinterindien förderte die Entstehung buddhistischer und hinduistischer Regionalreiche, Stadtstaaten und Handelsentrepôts gleichermaßen die Niederlassung und Entstehung weiträumig operierender Diasporagemeinschaften und -netzwerke. Die Ausdehnung des Buddhismus und die Entstehung dieser hindu-buddhistischen Ökumene und Handelszone wurde damit vorrangig von indischen Diasporagruppen unterschiedlichster (Kasten-)Provenienz und Berufsspezialisierung vorangetrieben. Dabei übertrugen diese Diasporagemeinschaften lediglich Organisationsformen, Austauschmechanismen und Identitätsmuster nach außen und in die Ferne, auf die sie sich in Südasien seit Jahrhunderten gestützt hatten. Denn in Südasien waren, parallel zur Entstehung des Buddhismus, organisierter Sekten- und Händlergemeinschaften, der Stadtkulturen und der ersten Regionalreiche seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert erste, überwiegend landgestützte, aber indienweite Diasporanetzwerke entstanden. Diese Diasporanetzwerke waren höchst unterschiedlich in ihrer Reichweite, Berufsspezialisierung und Kohäsion.
     Für das 8. und 9. Jahrhundert AD – eine Epoche also, als ein siegreicher Islam die diasporischen Netzwerke Indiens in eine ebenfalls von Diasporagemeinschaften getragene und auf Bagdad zentrierte Weltökonomie einband, könnten beispielhaft genannt werden:
Die Nattukottai Chettiar, eine Geldverleiherkaste in der südindischen Provinz Tamil Nadu, die die Steuerpachten und Finanztransaktionen südindischer und ceylonesischer Potentaten organisierten und in ihren Niederlassungen eigene Tempel(bezirke) errichteten; die in (Kasten)Gilden organisierten südindischen (Über)Seehändler, die ihre Siedlungs- und Stützpunkte entlang der ceylonesischen Küste errichteten, periodische Handelsexpeditionen nach Nordceylon unternahmen und ebenfalls über eigene Kulte und Tempelanlagen verfügten; die Marwaris aus den nordindischen Festungs- und Karawanenstädten Rajasthans, die sich in fast alle Palast- und Handelszentren Nordindiens ausbreiteten, ein nordindienweites Handelnetz organisierten und sich zur Verehrung Krishnas bekannten. Weitere Beispiele für indienweit oder regional organisierte Diasporagemeinschaften sind die Gosain-Sekte, die Vallabhacharya-Händlergemeinschaft, die Sikhgemeinschaft und ein bemerkenswerter Grenzfall, die Chitpavan-Brahmanen.
     Im Kern gilt und galt, dass die enorme Kasten- und Sektenvielfalt der Hindugesellschaft, also ihre ungeheure professionelle Spezialisierung und religiöse Differenzierung, die Möglichkeit bot, die meisten wirtschaftlichen, finanziellen, diplomatischen oder administrativen Dienstleistungen auf der Grundlage kastenspezifischer oder sektarischer Diasporagemeinschaften im überregionalen Rahmen zu organisieren.
     Diese Netzwerke standen in Konkurrenz und in Kooperation. Seit der Errichtung islamischer Herrschaft arbeiteten diese indischen Diasporagemeinschaften mit nunmehr genuin internationalen Diasporanetzwerken zusammen. Zu diesen nunmehr in wie außerhalb Indiens operierenden, avant la lettre "globalisierten" Diasporanetzwerken zählen die aus großen Handelzentren oder -regionen stammenden muslimischen Händlergruppen – Bukhari, Samarkandi, Khorasani –, die auf Shia-Sekten gegründeten weiträumig operierenden Händlergemeinschaften – Memon, Bohra –, vor allem aber die Juden und Armenier, die mit dem Islam endgültig in Indien Fuß fassten.
     Die so neuen, weil jetzt ausschließlich seegetragenen Imperien der Portugiesen, der Niederländer, vor allem der Engländer arbeiten mit all diesen Diasporanetzwerken von Anfang an offen oder uneingestandenermaßen zusammen. Ohne die enge Zusammenarbeit mit diesen und auch jüdischen Netzwerken lässt sich kein Estado da India organisieren. Auch das britische Empire, die British Raj, bleibt zumindest inoffiziell stets auf die Kollaboration mit diesen Netzwerken angewiesen. Nur Kontraktoren, die aus einer Diasporagemeinschaft stammen oder sich auf sie stützen, können die finanziell und logistisch aufwendigen Aufgaben der kolonialen Arbeitsverwaltung meistern. Aber auch bei vielerlei anderen Entwicklungs-, Kontroll- oder Verwaltungsaufgaben der British Raj etabliert sich eine für die Kolonialmacht wie für die Diasporanetzwerke vorteilhafte Zusammenarbeit – so etwa beim Ausbau der Kolonialstädte, der Hafenanlagen und des Eisenbahn- und Kanalsystems. Jahrhundertealte Diasporagemeinschaften gewinnen damit unter der British Raj Macht und Einfluss. Ein neuer Bodenmarkt und ein neues Rechtssystem kommen vorrangig diesen starken und weiträumig organisierten, zumeist literaten und hochqualifizierten Gruppen zugute.
     Weniger die British Raj, sondern die ununterbrochene Expansion des Empire bringen aber während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine ganz neue, eine jetzt zunehmend internationale indische Diaspora hervor: In Birma, Malaya und in Singapur, vor allem aber in den ausgedehnten Kolonialgebieten, die Großbritannien beim "scramble for Africa" seit 1871 zufallen, werden jetzt die kolonialen Amtsstuben mit hochqualifizierten, aber niedrig bezahlten indischen Beamten vorläufig gefüllt. Der Aufbau einer Infrastruktur, eines Plantagensektors, einer cash-crop-Ökonomie oder die Errichtung von Marktzentren und Hafenstädten in Afrika, in Malaya und auch auf den indischen und pazifischen Inselstützpunkten (Seychellen, Fidschi, Mauritius etc.) zwingt die Kolonialmacht wiederum dazu "Coolies", also "bonded labour", in Südindien und in Bengalen zu rekrutieren – eine Aufgabe, die bereitwillig von den Angehörigen der Diasporagemeinschaften übernommen wird. Tamilische Kontraktorenkreise, oft aus großen Bauern- oder Händlerkasten, sichern den Zuzug der fast durchgängig unberührbaren Arbeitergruppen; die (Nattukottai) Chettiar gründen jetzt Kontore in allen neuen Hafenstädten, Plantagen- und Verwaltungszentren; gebildete Jaffna(Nordceylon)Vellalas übernehmen Anwaltskanzleien, Buchhalterfunktionen und Beraterstellungen in den neuen, vor allem auch afrikanischen Kolonialgebieten. "Ambulante" Goanesen übernehmen und monopolisieren in Ostafrika das Schneiderhandwerk; Marwaris und andere Händlergruppen organisieren die Basare in den Plantagengebieten und die Verschuldung der Coolies. "A new kind of slavery" (Hugh Tinker, London 1962) entsteht. Mit dieser Internationalisierung der alten Diasporagemeinschaft entsteht nicht nur eine weiträumigere, sondern eine neue Diasporastruktur.
     Im Kautschukplantagensektor Malayas, auf den Zuckerrohrplantagen der Seychellen und Natals (Südafrika), in dem Netzwerk der von Indern dominierten Kleinstädte Ugandas, in den großen Hafenstützpunkten Ostafrikas, in allen diesen Zentren siedeln jetzt indische Minderheiten, die aus indischer, "hinduistischer" Perspektive von einer enormen Kastenungleichheit, von ritueller Heterogenität und Sektenvielfalt geprägt sind. Nach der Logik des Hindu-, des Dharmasystems, können diese Gruppen vor Ort keine einheitliche indische Diasporagemeinschaft bilden. Sie bilden nur eine Summe, keine Struktur von Gruppen.
     Über mehrere Generationen bilden jedoch die lokalen indischen Gemeinschaften – wenn keinen Mikrokosmos, so doch zumindest ein Zerrbild der indischen Kastengemeinschaft: Bauern- und Pilgerkasten fehlen; Unberührbare stellen oft eine Mehrheit; sozial und ökonomisch werden sie dominiert von Diasporagemeinschaften, die aus Händlerkasten stammen. Aber der hohe Anteil an Unberührbaren, der Mangel an Brahmanen (den rituellen Ordnungsträgern), die für viele unüberwindbare Distanz zu anderen Regionen und vor allem ihre Machtlosigkeit und Minderheitsstellung gegenüber der Kolonialmacht und den "Eingeborenen," erzwingen den sozialen Zusammenschluss, die Selbstorganisation und eine langsame Nivellierung der sozialen und rituellen Unterschiede. Die "natürlichen" Führer der lokalen indischen Minderheiten – Gujrati-Bankiers, Nattukottai-Geldverleiher, Vellala-Manager, Marwari-Großhändler –organisieren diese indischen Minderheiten als sozialen Block und verlangen (Mitsprache-) Rechte, (Handels-)Konzessionen und (Schulgründungs-)Lizenzen ("grant in aid") für alle "Inder". Damit entsteht während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über und neben den einzelnen Diasporagruppen eine organisierte und zunehmend selbstbewusste, nunmehr "indische Diaspora," die nicht zuletzt von der Operationsweise des Empire gefördert wird.
     Nach der Dekolonialisierung können die diasporischen Gemeinschaften dieser Welle der politischen Majorisierung und Marginalisierung nicht mehr ausweichen. Werden sie nicht, wie in Uganda, vertrieben, so wandern sie aus, nicht zurück nach Indien, sondern nach Großbritannien, Australien und in wachsendem Maße in die USA. Ihrer internen wie externen Organisationskompetenz gewiss, beginnen sich diese Zuwanderer als "Indian Community" politisch zu organisieren. Diese indischen Gemeinschaften beginnen sich nunmehr zunehmend einem westlichen Mittelstandsmodell zu assimilieren. Die Kernfamilie dominiert; Kastenregeln werden zeremoniell; die Religion zur Folklore. Seit der Unabhängigkeit und Teilung Britisch Indiens, verstärkt seit dem Einsetzen eines Globalisierungsprozesses, stoßen andere Emigranten aus dem Mutterland Indien zu diesen Communities hinzu, als billige "Arbeitskräfte", die einer Vielzahl von regionalen Brahmanen-, Händler-, Bauern- oder selbst Handwerkergruppen und -kasten entstammen. Die lokalen "little Indias", von New York bis zum East End, werden damit zum Spiegelbild der ungeheuren sprachlichen, regionalen, sozialen und ethnischen Vielfalt eines noch nicht sozial und wirtschaftlich, aber zunehmend politisch modernisierten Indiens. Sind die westlichen Indian Communities in der Lage, diesen Komplexitätsschub zu verkraften? Können sie bei wachsender Interessen- und Identitätsheterogenität diese Neuzuwanderer integrieren? Einiges spricht dafür, dass sie entsprechend dem indischen (und dem amerikanischen) Staatsmotto "Einheit in der Vielfalt" zwar nicht als Schmelztiegel, aber als eine individualisierende, pluralisierende und säkularisierende Sozialisationsinstanz operieren.
Dabei haben die neuen Kommunikations-, Bewegungs- und Austauschchancen einer zunehmend globalisierten Welt einen entscheidenden Anteil. Im Gegensatz zu der noch technisch begrenzten Vernetzung in der kolonialen Diaspora verfügen diese zunehmend globalisierten indischen Diasporagruppen über vollständig neue und erweiterte Spielräume des Austauschs, der Orientierung und der Identität. Professionelle und intellektuelle, familiäre oder wirtschaftliche, soziale und politische Kontakte können mit Mitgliedern anderer Diasporagemeinschaften, mit den Familien und Nachbarn des Heimatlandes, mit den Mitgliedern der eigenen, der lokalen Community, jederzeit und parallel aufrechterhalten werden. Hinzu kommt ein unter demokratischen und pluralistischen Rahmen- und Lebensbedingungen erleichterter Austausch mit den (Mit)Bürgern des eigenen Landes. Das alles kann zu einer zunehmenden Vernetzung der indischen Diaspora, zu einer Verdichtung der Kontakte, zu einer Erhöhung der Mobilität, zu einer Erweiterung der Orientierungshorizonte, zu neuen Identitätskonstruktionen und zu einer synkretistischen oder "hybridisierten" Diasporakultur beitragen.
     Über das 19. Jahrhundert hat sich mithin aus den spezialisierten indischen Diasporagemeinschaften eine sozial weit offenere koloniale Diaspora konstituiert. Prozesse der Dekolonialisierung und der Globalisierung haben diese koloniale Diaspora im Westen in ein internationales Diasporanetzwerk transformiert. Es ist von enormer Beweglichkeit und Offenheit gekennzeichnet. Dabei gründet es sich auf "Indian Communities", die mit dem Gastland, dem Mutterland und dem Netzwerk selbst politisch eigenständig interagieren.
     Den Ursachen, Erscheinungsformen, Trägern, Strukturen und Konsequenzen dieser wenn nicht einzigartigen, so doch höchst eigenartigen Entwicklung der indischen Diaspora soll in diesem Forschungsschwerpunkt nachgegangen werden. Dabei steht die Frage nach dem spezifischen Kulturkontakt, den diese Diaspora einerseits auslöst und der sie andererseits prägt, im Vordergrund. Diese Untersuchungsperspektive verbindet sich mit einer weiteren: Welcher (Wissenschafts-)Diskurs über sich selbst und die jeweils anderen, Fremden, prägt und konstituiert diese Diasporas. Und, sehr viel entscheidender: Wie ist jener Wissenschaftsdiskurs beschaffen, mit dessen Hilfe die jeweiligen Mehrheiten, Herrschaftseliten und Staaten, also die Sieger der modernen Geschichte, diese Fremden zu deuten, zu distanzieren oder zu assimilieren versuchen. Diese Forschungsfragen sollen im Folgenden kurz ausgelotet werden.
     

Erstens: Diasporas. Es gilt zunächst zu klären, ob die angeführten traditionellen indischen Diasporagemeinschaften, ebenso wie die seit der Kolonialzeit entstandenen neuen und in ihrer Zusammensetzung sozial und regional heterogenen Indian Communities, eine Diaspora im Sinne des vorgeschlagenen Modells bilden. Auch wenn dieser Nachweis gelingt, so sollten die Variationsbreite und die Grenzfälle, die sich bei diesen Gemeinschaften zeigen, im Lichte des beigefügten oder anderer theoretischer Modelle erfasst werden. Hinzu kommen aber noch weitere wichtige Forschungsanliegen. Wenige der genannten Diasporagruppen sind jemals systematisch dargestellt und analysiert worden. Es fehlen Studien zu ihrer Organisation, zu ihren Techniken und Traditionen des Gruppenerhalts und der Identitätsbehauptung oder zu ihrer Konkurrenz oder Kooperation mit anderen Gemeinschaften. Darüber hinaus ist es notwendig, zu klären, inwiefern alle indischen imperialen oder regionalen "Patremonialherrschaften" oder Stadtstaaten grundsätzlich auf eine intime Kooperation mit diesen Gemeinschaften angewiesen waren, ob das, was der Moderne und dem (territorial)staatszentrierten Westen als Exotikum erscheint, im vorneuzeitlichen Südasien nicht die Regel war. Eine solche Forschungsperspektive kann zu Untersuchungen führen, die der Notwendigkeit religiöser Toleranz und eines (religiösen) Rechtspluralismus nachgehen; Untersuchungen, die die Grenzen aufzeigen, die in solchen Herrschaftsgebilden gegenüber allen religiösen und kulturellen Homogenisierungsversuchen gezogen waren.
    

Zweitens: Kultur. Diasporagruppen müssen in dem Spannungsfeld der drei sie konstituierenden Orientierungsebenen – Ursprungsland, Gastland und Lokalgemeinschaft, Diasporanetzwerk – eine spezifische Kultur und Identität ausprägen, fortlaufend modifizieren und bewahren. Die jeweilige lokale Diasporaidentität muss aber jenseits ihrer Eigenart oder Einzigartigkeit über einen angemessenen Fundus von Traditionen, Konventionen und Werthaltungen verfügen, den sie mit den anderen Diasporagemeinschaften teilt. Zu untersuchen wäre, wie diese Identitätskonstruktionen in einer vormodernen, einer kolonialen oder einer globalisierten Welt bewerkstelligt werden. Wie organisiert sich ein kollektives Erinnern, partielles Vergessen oder notwendiges Umdeuten – über enorme Distanzen und mehrere Generationen? Zeigen sich Mechanismen einer kulturellen "Zentrifugalität"? Wann und unter welchen Bedingungen endet eine Diaspora – durch Integration oder Kooptation in größere Netzwerke (neue indische Diaspora) oder durch Assimilation in einem Gastland?
    

Drittens: Kontakt. Diasporas konstituieren Mechanismen, die die Erfahrung und den Status des "Fremden" auf Dauer organisieren. Aufgrund ihrer Andersartigkeit, Außenorientierung, Beweglichkeit und Spezialisierung werden die Diasporagemeinschaften nützlich und unersetzbar für die Herrscher, ebenso wie für ihre Bevölkerungen. Die Fremden stehen damit in einem notwendigen, aber immer reglementierten Kontakt. Fremdheit und Austausch bedingen sich gegenseitig; sie müssen gleichzeitig organisiert, reguliert und bewahrt werden. Dieser Sachverhalt gilt aber auch für die "nahen Fremden", für all jene einheimischen Bauern-, Handwerks- und Nomadengruppen, die innerhalb der Herrschaftsgebilde, im Rahmen interethnischer Arbeits- und Herrschaftsteilung Handelsaustausch und spezialisierte Dienstleistungen, Verwaltung und Kriegsführung (mit)übernehmen. Zu fragen wäre hier, unter welchen besonderen Rahmenbedingungen ein spezifischer Kulturkontakt der Diaspora steht – gegenüber den Eliten und Bevölkerungen eines Gastlandes, gegenüber den anderen Diasporagemeinschaften, gegenüber einem verlorenen, einem fernen oder nahen Ursprungsland. Welche Formen der selektiven Aneignung, Adaption und Re-Interpretation prägen diese Kontakte und damit zugleich die Kultur und Identität der Diasporagemeinschaften? Welche Varianten der partiellen sprachlichen, stilistischen, folkloristischen, kulturellen und religiösen Angleichung zeigen sich? Mit welchen Mechanismen und Begründungen wird die identitätsstiftende und -erhaltende ethnische, kulturelle oder religiöse Grenze und Gemeinschaftsdefinition aufrechterhalten und erneuert?
     

Viertens: Diskurs. (Gruppen)Diskurse sind nicht nur große Erzählungen, eingelagert in und tradiert durch ein kollektives Gedächtnis. Es sind nicht nur spezifische, historische Theodizeen der jeweiligen Diasporagemeinschaft. Damit solche Diskurse Diasporagruppen (ebenso wie ideologische Massenbewegungen) prägen, sozialisieren, motivieren und mobilisieren können, müssen sie auf eine spezifische Ethik, Ästhetik, Wissenschaft oder Ideologie zurückgreifen können. Diasporagemeinschaften können diese aus der ihnen spezifischen Religion oder Berufsspezialisierung ableiten. Auf die Gruppenidentität gewendet, bedeutet dies, dass Diasporagemeinschaften einen spezifischen Wahrheits-, Schönheits- oder Gerechtigkeitssinn bei allen oder den führenden Mitgliedern der Gruppe ausprägen müssen. Der spezifische Diasporadiskurs muss ein bestimmtes Weltbild begründen und rechtfertigen, die schmerzliche oder erfolgversprechende Abwanderung aus einer Heimat, die immer prekäre Minderheitenstellung und Ohnmacht gegenüber Mehrheiten im Gastland, im Ursprungsland, in der Welt explizieren sowie die Kontaktregeln gegenüber den Fremden erklären und begründen. Wie sind diese Diasporadiskurse entstanden? Welche Vorstellungen von Alterität lassen sich in ihnen finden? Auf welche Weise haben sie sich tradiert? Noch wichtiger aber ist eine gegenläufige Forschungsperspektive: Welche Diskurse gegenüber Minderheiten und Diasporagruppen zeigen sich in dem jeweiligen Gastland, auf welchen sozialen Ebenen basieren sie, mit welchen religiösen oder politischen Begründungen sind sie ausgestattet?
     

Fünftens: Wissenschaft. Es ist unangemessen, die im 19. Jahrhundert entstandenen Kultur- und Sozialwissenschaften als ausschließlich territorialstaatszentriert, als "Containerwissenschaften" (Beck 1997) einzuschätzen. Bei einzelnen Themen und Forschungsfragen ist allerdings eine solche auf Nationalstaaten und -ökonomien gerichtete Perspektivenverengung unübersehbar. Diasporagemeinschaften und -netzwerke wurden während des 19. Jahrhunderts und auch während des 20. Jahrhunderts in ihren glänzenden, kosmopolitischen Einzelfällen untersucht, als ein generelles Forschungsanliegen wurden sie nicht wahrgenommen. Obwohl das "kurze 20. Jahrhundert", das nach E. Hobsbawm (1994) von 1914 bis 1991 dauernde "Zeitalter der Extreme", mit seinen Vertreibungen, Flüchtlingsbewegungen und Migrationsströmen vollständig neue und zumeist unfreiwillige Diasporanetzwerke begründete, entstand keine breitgefächerte, multidisziplinäre Diasporaforschung. Den politischen und wissenschaftlichen Eliten des 19. Jahrhunderts erschienen Diasporagemeinschaften als Hypotheken einer vormodernen Welt – im Westen als noch nicht assimilierte "marginal men", in der kolonialen Welt als ein nützliches Kuriosum. Die Entwicklungslogik der politischen Moderne besagte, dass diese Außenseiter durch das "State und Nation Building" langfristig eingeordnet, integriert und "naturalisiert" werden würden. Die gleiche Perspektive trug während der Vertreibungs- und Vernichtungskatastrophen des 20. Jahrhunderts dazu bei, Diasporagemeinschaften vorrangig und oft auch zu recht als Opfer und als Flüchtlinge zu betrachten. Die Diaspora als eine gegenläufige wirtschaftliche, kulturelle und soziale (Über)Lebensform, als eine politische Alternative und Komplementärerscheinung zum modernen Staat, wurde dabei jedoch übersehen. Erst die Prozesse der Globalisierung und damit die enorme Zunahme internationaler und regionaler Migration haben einen Perspektivenwechsel erzwungen. Unter diesem neuen Blickwinkel werden die Diasporagemeinschaften nicht als Überbleibsel und Nischenbewohner einer vormodernen Welt betrachtet, sondern ihre Lebensform und Organisationsstruktur erscheinen vielmehr als angemessene und wachsend notwendige Anpassungsleistungen an die Sachzwänge einer globalisierten und vernetzten, aber sozial, politisch und regional höchst ungleichen Welt. Trotz dieses Perspektivenwechsels ist die Erforschung solcher Gemeinschaften bislang lediglich Gegenstand einzelner Ethnologen, Historiker und Politikwissenschaftler geblieben. Eine Untersuchung der Entstehung, Ausbreitung und gegenwärtig der Globalisierung indischer Diasporagemeinschaften bietet deshalb die Chance, einem in jeder Hinsicht beeindruckenden Fallbeispiel der gegenwärtigen weltumspannenden sozioökonomischen und kulturellen Entwicklung nachzugehen.

Dissertationsthemen

  1. Die Entstehung und die Austauschmechanismen innerhalb der tamilischen Diaspora in Europa und Nordamerika
  2. Interessenartikulation, (Selbst-)Inszenierung und Identität innerhalb der indischen Diasporagemeinschaften in den USA
  3. Die Transformation der indischen Kontraktarbeiter in eine indische Diaspora während und nach der Kolonialzeit
  4. Die Rolle von innerindischen Diasporagemeinschaften in der Herrschaftskonsolidierung und Verwaltung von Britisch Indien