Begegnung und Koexistenz von Christen, Juden und Muslimen in Palästina im 12. und 13. Jahrhundert

Prof. Dr. Heinrich Holze

Die Kreuzzüge gelten in der Geschichtswissenschaft seit langem als eine Bewegung, die an die Tradition der Wallfahrten ins Heilige Land anknüpfte und sie unter den veränderten Bedingungen des hohen Mittelalters politisierte (Erdmann 1935/1955). In dieser Deutung spielte das eschatologische Selbstverständnis der zeitgenössischen Quellen, das die Nichtchristen als ein Instrumente gegengöttlicher Kräfte sah, eine herausgehobene Rolle. Man verwies darauf, dass die auf Jerusalem bezogene Erwartung endzeitlicher Vollendung der Geschichte bei den Kreuzfahrern eine Haltung entstehen ließ, in der es kein Nebeneinander, sondern nur ein Gegeneinander von Christentum und Nichtchristen geben konnte. Eine wichtige Quelle dafür sind die päpstlichen Aufrufe mit ihrer Verbindung von Wallfahrtsfrömmigkeit, apokalyptischer Zeitdeutung und politischem Vormachtsstreben (Schwerin 1937).

Diese Perspektive hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Korrekturen erfahren. Dabei zeigte sich, dass die Kreuzzüge nicht nur religiös begründet, sondern Teil einer umfassenden Migrationsbewegung waren, in deren Verlauf Menschen auch aus demographischen (Bevölkerungswachstum) und ökonomischen Gründen (Fernhandel) von Mitteleuropa in den Orient zogen (Moore 2001). Es wurde deutlich, dass mit der Gründung neuer Staaten in Palästina eine Entwicklung einsetzte, die auch die Haltung der Abendländer gegenüber den Muslimen veränderte. Zwar kam es nach der Eroberung des Landes durch die Kreuzfahrer wiederholt zu Unruhen unter der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung gegen die Besatzer. Zugleich aber lässt sich beobachten, dass die Kreuzfahrer, indem sie sich in Palästina auf Dauer niederließen, in ein friedliches Nebeneinander zu denen traten, die sie zuvor bekämpft hatten (Engels 1993). Die daraus entstehenden Kulturkontakte führten auf beiden Seiten zu einem sozialen und religiösen Lernen (Rittner 1973).

Für die Kreuzfahrerstaaten bedeutete der unablässige Zuzug aus dem Westen einen ständigen Umbruch und ein sich fortwährend veränderndes inneres Gefüge. Weil zu der Bevölkerung neben den Christen lateinischer Herkunft auch byzantinische und orientalische Christen, Muslime unterschiedlicher Provenienz sowie Juden in Palästina lebten, hat man die Kreuzfahrerstaaten unter Aufnahme eines aktuellen Deutungsmusters als "multikulturelle Gesellschaft" bezeichnet (Mayer 1997). Für die Abendländer erschloss sich durch die Lebenssituation in Palästina nicht nur die Erfahrung, dass das Christentum vielfältiger war, als es bisher aus römischer Perspektive erschienen war (Schöndorfer 1997). Das Nebeneinander von christlichen und islamischen Heiligtümern insbesondere in Jerusalem führte außerdem zur Begegnung von Pilgern beider Religionen (Möhring 1998). Außerdem wurden zwischen den fränkischen und den islamischen Herrschern Verträge und Abkommen geschlossen. Der Kreuzzugsgedanke wurde durch das Bemühen um koexistente Strukturen abgelöst (Köhler 1991). Auch die wirtschaftlichen Beziehungen spielten für den kulturellen Austausch eine wichtige Rolle (Abulafia 1995). Als Handelspartner begannen die in Palästina ansiedelnden Kreuzfahrer und ihre arabischen Partner sich für Sprache, Wissenschaft und Kultur der Araber zu interessieren. Das religiöse Selbstverständnis, bisher von exklusiven Ansprüchen geprägt, wurde durch die Begegnung neu gefasst. Bisweilen trat an die Stelle absoluter Wahrheitsbehauptung die Erkenntnis relativer Gewissheit (Niewöhner 1992). Im Abendland hinterließ dieser Prozess seine Spuren, wie sich an den Schriften des Petrus Venerabilis zum Islam zeigt (Kritzeck 1964). Die Ansätze zur Überwindung überkommener Antagonismen haben sich literarisch niedergeschlagen. Paradigmatisch ist der fränkische  Ritter Wilhelm von Tyros, der in seiner Geschichte der orientalischen Könige traditionelle Feindbilder überwindet (Schwinges 1992, 1998). Auf islamischer Seite lässt sich auf Usamah Ibn-Munqidh verweisen, der in seinen Erinnerungen von den Begegnungen mit Christen berichtet (Miquel 1983).
Zu den in der (kirchen-)historischen Forschung kaum bearbeiteten Aspekten des Kulturkontaktes zwischen Arabern und Christen gehören die Konversionen, die in den Chroniken, Pilgerberichten  und anderen Quellen beiläufig angedeutet, aber kaum näher ausgeführt werden. Untersuchungen zum Thema "Konversion im Mittelalter" liegen bisher nur zum baltischen Raum (Murray 2001) und zu Spanien vor (Barton-Linehan 2008). Ansonsten gibt es Überblicksdarstellungen (Hillgarth 1986, Fletcher 1998, Carver 2005), die sich insbesondere auf das Verhältnis von Christen und Juden beziehen (Kruger 2005). Die Kreuzzüge sind aber bisher noch nicht unter der Fragestellung christlich-islamischer Konversionen untersucht worden.
Der Forschungsschwerpunkt geht den geschilderten Prozessen nach, indem das In- und Miteinander von politischen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Aspekten untersucht wird. In den Dissertationsprojekten geht es darum, die Quellen auf die konkreten Gestaltungen religiöser Koexistenz im alltäglichen Leben durch eine detaillierte Lektüre neu zu erschließen. In der historischen Forschung sind die Begegnungs- und Kontaktsituationen und ihre Rückwirkungen auf das (religiöse) Selbstverständnis der Christen, Muslime und Juden bisher nur in Ansätzen dargestellt worden. Zugleich soll jedoch auch die Frage gestellt werden, inwieweit es sich bei den Darstellungen der "Anderen" um historische begründete Bilder oder um literarische Konstruktionen handelt, die als Ausdruck kultureller Konstruktionen zu verstehen sind, in denen sich der Umgang mit dem/den Anderen manifestiert.

Das historisch-kritische Quellenstudium wird mit einer Analyse der wissenschaftshistorischen Entwicklung verbunden. Die Kreuzzüge waren in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand unterschiedlicher Forschungsvorhaben, doch liegen über Veränderungen der wissenschaftlichen Bewertung der historischen Ereignisse keine Untersuchungen vor. Dem Rezeptionsaspekt kommt darum in den Dissertationsprojekten besonderes Gewicht zu. Wichtig ist die Frage, wie die Kreuzzüge zu unterschiedlichen Zeiten in jeweils regulativ wirkenden Kontexten gelesen und welche besonderen Denkmodelle und Erklärungsmuster dazu herangezogen wurden.


Mögliche Dissertationsprojekte:

1) Argumentationsfiguren zwischen Christen und Muslimen in der Kreuzzugszeit

2) Konstruktionen religiöser und kultureller Begegnung in Palästina

3) Wirkungsgeschichte der frühen christlichen Islampolemik

4) Konversionen in der Kreuzzugszeit