Die Presse der ethnischen Minoritäten Großbritanniens als Ergebnis von Kulturkontakt

Prof. Dr. Gabriele Linke

Zentrum des Projektes ist die Presse der ethnischen Minoritäten, die in Grossbritannien vor allem seit den 1980er Jahren entstanden ist, deren Anfänge aber zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Seit vor allem von 1948 bis 1965 Immigranten aus dem früheren britischen Empire, besonders aus dem karibischen Raum, Indien und Pakistan, in größeren Zahlen als Arbeitkräfte nach Großbritannien kamen, bestand nicht nur ein alltäglicher Kontakt zwischen den Kulturen, sondern nahmen deren kulturelle Ausdrucksformen allmählich Gestalt an. Die Zeitungen ethnischer Minoritäten erschienen in Großbritannien schon seit 1951 (Jamaica Gleaner), diese Form der Presse expandierte und diversifizierte sich jedoch erst in den 1980er Jahren, auch als Gegenentwurf zur – damals oft rassistischen – britischen Presse. Sie weist eine Vielfalt von Formen auf, die sich auf einem Kontinuum von einer treuen Imitation der britischen Mainstream-Presse bis hin zu stark anderskulturell geprägten Mischformen einordnen lassen. Ein wesentlicher Faktor der Variation sind die Zielgruppen; so gibt es z.B. Zeitungen für Einwanderer mit starken Bindungen an das Herkunftsland, aber auch für eine kosmopolitische Elite und für junge Briten mit geringer Bindung an das Herkunftsland. Diese Medienprodukte repräsentieren Verhandlungen von Identität in einer Kontaktsituation, die sowohl von der kolonialen Vergangenheit als auch – zunehmend – von Globalisierungsprozessen geprägt ist.

     An allgemeinen Modellen und Theorien zur Erforschung von Kulturkontakten wäre zunächst der (Neo-)Marxismus zu nennen, wobei vor allem die Begriffe "Hegemonie" (Gramsci 1971), "Ideologie" (Williams 1977) sowie die Bedeutung des ökonomischen und Klassen-Kontextes und des handelnden Subjekts von den Kulturwissenschaften, besonders den Cultural Studies, einbezogen wurden. John Storey (1993, 200f.) empfiehlt eine Rückkehr zu neomarxistischen Ansätzen, besonders der Hegemonietheorie, die Kultur (und Konsum) sowohl als aktive Erfahrung als auch als 'freiwillige' Reproduktion sozialer und ökonomischer Strukturen versteht.

     Da Kulturkontakte in konkreten ökonomischen Kontexten und meist bei ungleicher Machtverteilung stattfinden,  kann z.B. der Begriff von Hegemonie als beweglichem Gleichgewicht (Hebdige 2001,  205) relevant sein, ebenso ein Verständnis von Subkultur als Herausforderung an die Hegemonie. Ebenfalls relevant ist die Frage der ideologischen Positionierung der ethnischen Presse zu dominanten Diskursen sowie die Einbeziehung ökonomischer Faktoren und der Produzenten und Rezipienten in die Interpretation des Phänomens "ethnische Presse". Riggins (1992, 278) stellt z.B. fest, dass die ethnische Presse mit der Darstellung der eigenen ethnischen Gruppe eine "counter-ideology" verbreitet.

     Zum Thema Kulturkontakt ist die Theoriediskussion zum postkolonialen Diskurs und der postkolonialen Kultur (Bhabha, Said, Hall und andere) bestimmend. Frühere Diskurse, die von einer klaren Trennung und einem einfachen Gegensatz und Unterdrückungsverhältnis zwischen Kolonisten und Kolonisierten ausgingen, wurden abgelöst von einer Sehweise, die postkoloniale Identitäten als komplex und instabil ansieht und Differenzen innerhalb der Kategorien und "cross-overs" betont. Dabei ist z.B. Edward Said, einer der Wegbereiter der postkolonialen Kritik, selbst eines Mangels an Differenzierung und der Missachtung populärer kultureller Ausdrucksformen bezichtigt worden (vgl. Kreutzer 1995, 207; Kritik auch in MacKenzie 1995). Homi Bhabha und andere schlagen vor, dass Hybridität und Ambiguität die Dynamik der kolonialen Begegnung besser beschreiben (vgl. Bhabha 1994, Loomba 1998, 105). Es bleibt außerdem zu untersuchen, inwieweit Migration und Kulturkontakte, die nicht auf postkolonialen Beziehungen im engeren Sinne beruhen, zu ähnlichen oder anderen mediale Ausdrucksformen führen.

     Der Hybriditätsbegriff erscheint auch in der Beschreibung und Klassifikation von Mediengenres, also mit Bezug auf formale Merkmale (z.B. bei Krewani 2001, 31ff.). Hier wird der Begriff als "Gegenbegriff gegen Konzepte, die auf Einheitlichkeiten, Monokausalitäten und Ontologisierung zielen, wie z.B. 'Linearität', 'Eindeutigkeit', oder 'Hegemonie'" (32) definiert. Krewani betont, dass es sich nicht um einen Paradigmenwechsel handelt, sondern dass Hybridität nur eine Komplexitätssteigerung anzeigt. Sie sieht die Romantheorie Bakhtins als einen Ort an, an dem der Begriff in die Literatur- und Medienwissenschaft eindringt. Bakhtin bezeichnet damit die oftmals subversive Gegenläufigkeit unterschiedlicher Diskurse. Auch in der Postmoderne-Debatte wird der Hybriditätsbegriff als Gegensatz zum Hierarchischen und Hegemonialen verstanden. Krewani geht von einer Verankerung des Begriffs in massenmedialen Kontexten aus und untersucht hybride Formen in Film, Fernsehen und Hypermedien, wobei der Hybriditätsbegriff Analysen unter den Gesichtspunkten der Differenz und des kognitiven und kommunikativen Gewinns erlaubt. Zur Analyse von Hybridität ist weiterhin ein Rückgriff auf die Semiotik angebracht, da es sich bei hybriden Texten um komplexe Zeichensysteme mit einem hohen Anteil an Intertextualität und Dialogismus handelt (Thwaites et al. 2002).

     Mit postkolonialen Theorien sind Diskurse zu (postkolonialen, hybriden) Identitäten, Nationalismus (und Pan-Nationalismen) und Globalisierung eng verflochten. Werbner definiert Diasporas als "transnational communities of co-responsibilities" (3), sieht andererseits z.B. die pakistanische Diaspora am Rande zweier "imagined communities", Großbritannien und Pakistan (100). Dies trifft auch für andere ethnische Gruppen zu. Die Grenzziehungen und Verbindungen zwischen ethnischen, regionalen, transnationalen, klassenspezifischen und anderen (britischen) Identitäten erfolgen auch in medialen Diskursen.
Riggins (1992, 3) spricht von einem Medien-Imperativ zur Sicherung von Identitäten in der modernen Gesellschaft. Es bleibt die Frage, was für eine Identität im Falle der ethnischen Presse und ethnischer Medien allgemein gesichert werden soll. Ein weiterer Aspekt postkolonialer Identitäten, der anhand der ethnischen Minoritätenpresse zu untersuchen wäre, ist deren Öffnung für pan-asiatische und pan-afrikanische Ideen. Hier gibt es eine Tradition, die zu den Anfängen der ethnischen Presse zur Zeit des Empire zurück reicht, z.B. zu The Pan African, gegründet 1901 (vgl. Benjamin 1995: 11). Es müsste überprüft werden, ob und durch welche Gruppen diese Tradition unter den Bedingungen der Globalisierung fortgeführt wird.
     Aus der Migrationsforschung ist das Begriffsfeld um Assimilation/ Akkulturaltion/ Integration immer noch relevant, obwohl diese Begriffe vielfach neu definiert und kritisiert wurden, am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem mit Bezug auf die USA, aber in zunehmend weiteren Kontexten und seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts konkurrierend mit Konzepten des Pluralismus und Multikulturalismus. Sie werden im Kontext der ethnischen Presse durchaus noch verwendet, z.B. wenn Riggins (1992, 4, 278ff.) in der ethnischen Presse einen pluralistisch-assimilationistischen Dualismus beobachtet und die Frage nach der Übernahme dominanter Ideologien stellt – auch die Übernahme von kulturellen Ausdrucksformen, einschließlich Sprachen, ist hier zu beschreiben und interpretieren. Hier liegt die Verbindung zu Bakhtins Idee, dass sich gegensätzliche Stimmen einen Raum teilen, nahe.

     Da es sich bei der ethnischen Presse um ein Massenmedium handelt, bietet die Medienwissenschaft theoretische und methodische Anregungen für die Untersuchung, z.B. sollte der Beitrag der ethnischen Presse zur Identitätsformation (Riggins 1992, 276) durch empirische Untersuchungen zur Rezeption (Medienwirkungsforschung) erforscht und nicht nur forscherzentriert hypothetisiert werden.

Rahmenthemen für Dissertationsprojekte:

Medien und Identitätsformation in der Diaspora

Die Arbeiten zu diesem Bereich des Themas "Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs" können sich neben der Presse ethnischer Minoritäten auch anderen Massenmedien zuwenden und diese mit verschiedenen Methoden analysieren. Nach einem kurzen Abriss der Geschichte und Situation der jeweiligen ethnischen Gruppe in Großbritannien und  der Beschreibung und Interpretation der Entstehung, der Intentionen und der sozioökonomischen Einbettung der einzelnen Zeitungen sollte deren charakteristische Elemente  beschrieben und interpretiert werden. Dies bedarf i.Allg. der Analyse der formalen (Layout und bildlichen) und sprachlichen Merkmale der einzelnen Zeitung und des Vergleichs des Ergebnisses mit britischen oder anderen Äquivalenten oder zumindest ähnlichen Medienprodukten. In engem Zusammenhang damit steht die inhaltliche Analyse der Zeitungen mit Bezug auf die Mischung von Elementen verschiedener Kulturen, d.h. von fremdkulturellen, britischen und eventuell pan-afrikanischen bzw. pan-asiatischen Inhalten und Perspektiven. Dabei sollten unter anderem die weiter oben genannten Theorien und Konzepte (Diaspora, Hybridität) einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.
Die Textinterpretationen sollten möglichst durch qualitative empirische Untersuchungen zur Rezeption der ethnischen Presse, d.h. durch Leserbefragungen, ergänzt und mit diesen abgeglichen werden.


Mögliche Unterthemen:

  1. Vergleich zwischen The Gleaner, einer Zeitung für Einwanderer mit starker Bindung an das Herkunftsland, und The Caribbean Times, The New Nation  und The Voice, Zeitungen für "Black Britons", die nur eine geringe Bindung an das Herkunftsland haben.
  2. Die populären, pan-asiatischen Zeitungen Asian Age, Asian Times und Eastern Eye als englischsprachige Zeitungen für Asiaten in Großbritannien.
  3. Zweisprachige Zeitungen wie The Daily Jang/The International News, Akhbar-E-Watan (Urdu, Englisch), Amar Deep Hindi Weekly (Hindi, Englisch) und Garavi Gujarat(Gujarat, English) als besondere Form der kulturellen Hybridität.
  4. Untersuchungen neuer Zeitschriften wie Pride oder Asian Woman und deren Rolle bei der Identitätskonstruktion einer neuen ethnischen britischen Mittelschicht, die sich nicht unbedingt als Diaspora empfindet.
  5. Anwendung der o.g. Theorien und Fragestellungen auf andere Medienprodukte ethnischer Gruppen, z.B. Fernsehprogramme und Filme, und auf die Medienprodukte neuer Einwanderergruppen.