Körperzeichen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Mittelalter und Moderne

Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel

Dieser Forschungsschwerpunkt verfolgt eine doppelte Zielrichtung: Zum einen soll er anhand der literarischen Funktionalisierung von kulturell vermittelten, nonverbalen Codes verdeutlichen, wie sich die Poetik der mittelhochdeutschen Epen und Romane um 1200 aus einem Dialog zwischen zwei Kulturen erklärt, der in der Mündlichkeit verankerten Welt der adeligen Selbstpräsentation und der Welt der lateinischen Schriftkultur: Körperzeichen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Zum anderen geht es am Beispiel der Mittelalter-Rezeption um den Kontakt zwischen der gegenwärtigen Kultur und der partiell als fremd empfundenen Kultur der eigenen Vergangenheit, indem gefragt werden soll, wie die künstlerischen Adaptationen des Nibelungenliedes die im Prätext kodifizierten, aber als unverständlich wahrgenommenen Körperzeichen ausblenden oder im Rekurs auf zeitgenössische Diskurse ersetzen: Körperzeichen zwischen Mittelalter und Moderne.
     Diese Grundlagenforschung wird (gemäß der allgemeinen Ausrichtung des Graduiertenkollegs) kombiniert mit Untersuchungen, in denen die Veränderungen in der Wahrnehmung von Kulturkontakten nachgezeichnet werden. Dabei soll in Bezug auf den ersten Schwerpunkt (Körperzeichen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit) herausgestrichen werden, dass bei der Interpretation dieser Form von Kulturkontakt die mutmaßliche Alternative zwischen Kultur- und Sozialgeschichte einerseits und der Erforschung der Literarizität der Texte andererseits unfruchtbar bleiben muss und durch integrative Interpretationsmodelle ersetzt werden sollte, welche kulturwissenschaftliche Fragestellungen mit Erzähltheorie und Philologie verbinden.
      In Bezug auf den zweiten Schwerpunkt (Körperzeichen zwischen Mittelalter und Moderne) wird es in erster Linie darum gehen, die neu gewonnenen Einsichten in eine Poetik mittelalterlicher Texte für ein historisch differenzierteres Verständnis der Mittelalterrezeption vom 19. bis zum 21. Jahrhundert nutzbar zu machen. Dabei liegt ein entscheidender Neuansatz darin, nicht noch einmal die Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Moderne nachzuzeichnen, sondern systematisch danach zu fragen, an welchen Stellen der Versuch eines Kontaktes zwischen der Kultur der Moderne und der Kultur der Vergangenheit scheitert und welche Möglichkeiten der Kompensation entwickelt wurden, um die im Nichtverstehen aufscheinende Fremdheit der eigenen Geschichte abzuschwächen.

Körperzeichen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit – Zur Poetik mittelhochdeutscher Epen und Romane des 12. und 13. Jahrhunderts (Das Beispiel des Nibelungenliedes)

Die deutschsprachige Literatur des Mittelalters ist in ein umfassendes Geflecht teils divergierender, teils konvergierender Diskurse eingebunden. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an

  • die von Mündlichkeit geprägte Welt des Laienadels, der spätestens seit dem 12. Jahrhundert der Träger der deutschen Literatur ist
  • an die elaborierte Schriftlichkeit der lateinisch gebildeten Kleriker, die nicht nur die Literalisierung der Laienkultur vorantreibt, sondern dieser auch einen Zugriff zu den Bildungsgütern des lateinischen Christentums und der lateinischen Antike vermittelt
  • die im 12. und 13. Jahrhundert als vorbildhaft empfundene Literatur aus der Romania (vgl. Bumke 1986; Wenzel 1995).

Da die deutsche Literatur des Mittelalters ihr eigenes Profil in der partiellen Anlehnung an wie in der partiellen Abgrenzung von diesen drei diskursiven Formationen entwickelt hat, lag es schon immer im Interesse der germanistischen Mediävistik, den Kontakt und den Austausch zwischen diesen kulturellen Feldern zu beschreiben; sie ist auf diesem Gebiete denn auch zu beeindruckenden Ergebnissen gelangt. In diesem Zusammenhang ist m. E. besonders die neuere Forschung zur Poetik des höfischen Romans und der Heldenepik interessant (Vgl. Dörrich 2002; Philipowski 2000; J. D. Müller 1998; J. D. Müller 2003; Wandhoff 1996); diese hat im Rückgriff auf medien- und kulturhistorische Arbeiten herausgestellt, dass sich die besondere literarische Qualität der hochmittelalterlichen Erzählliteratur in deutscher Sprache in einem ganz erheblichen Maß aus der Spannung zwischen Schriftkultur und Ritual, zwischen den geschriebenen, in Codices tradierten Texten und den ungeschriebenen Spielregeln der Gesellschaft ergibt: Die großen Romane und Heldenepen aus der Zeit um 1200 können demnach zwar an der elaborierten Literarizität der lateinischen und altfranzösischen Bildungswelten partizipieren, sie sind aber andererseits geprägt durch die programmatische Bezugnahme auf die höchst elaborierten Zeichensysteme der sozialen Praxis, die gänzlich ohne Schrift auskommen und unter denen besonders die an das Medium des menschlichen Körpers gebundenen, zeremoniellen und pararituellen Kommunikationsformen der adeligen Hofkultur hervorstechen.
     Dabei sieht der Kontakt zwischen den Texten und der von Ritualen und Zeremonien geprägten Welt des Laienadels keineswegs so aus, dass die extratextuellen Phänomene lediglich 'widergespiegelt' würden; die Referenzen auf die Zeichenwelt der sozialen Praxis werden vielmehr dazu herangezogen, eine spezifisch mittelalterliche Poetik zu entwickeln. Diese umfasst im Falle des Nibelungenliedes zum einen die Makrostruktur des Textes, welche auf einem systematischen Arrangement von Grenzüberschreitungen und Bewegungen im Raum beruht (vgl. G. Müller 1975; Strohschneider 1997), die stets von (gelungenen oder gescheiterten) Akten der höfischen Präsentation begleitet werden. Zum anderen ist auf bestimmte darstellungstechnische Verfahren wie die sog. Schaubildtechnik zu verweisen, eine literarischen Strategie, welche die kommentierende und wertende Stellungsnahme des auktorialen Erzählers durch die Präsentation nonverbaler Zeichen ersetzt, die sowohl für die textinternen wie textexternen Rezipienten die Stellung der handelnden Personen zueinander verdeutlichen können. Solche Zeichen sind u.a. kulturell codierte Gesten und Gebärden, aber auch regelhafte Formen des Berührungsverhaltens wie Kuss oder Umarmung und nicht zuletzt die enorm wichtige Interaktion der Personen im Raum, die mit der Hilfe topographischer Distanzen soziale Nähe oder Ferne markiert. (Vgl. Bumke 1960; Heinzle 1987: 82-84; Kuhn 1952; Wenzel 1992; J.D. Müller 1989).
Insofern das Nibelungenlied also ein ganzes Set von historisch bezeugten, körpersprachlichen Zeichen nutzt, um seine spezifische Poetik zu entfalten, erfordert die Lektüre dieses Textes einen gedoppelten Blick, der philologische und kulturwissenschaftliche Zugriffsweisen miteinander verbindet:

  • Ohne eine genaue Kenntnis der beim Autor wie beim primären Zielpublikum vorauszusetzenden Formen der sozialen Praxis bliebe die Entschlüsselung der im Text vorgeführten Zeichen naiv; daraus ergibt sich zwangsläufig die methodische Forderung, diese Formen des gesellschaftlichen Umgangs aus anderen Quellen zu rekonstruieren und im Rückgriff auf angemessene Theorieansätze zu beschreiben: Geeignet sind dabei die Forschungen zum mittelalterlichen Zeremoniell (Vgl. Althoff 1997; Frühsorge 1988; Nelson 1986, Zotz 1991) sowie die neueren Arbeiten zur Zeichenwelt der adeligen Laienwelt (Vgl. Brüggen 1989; Brüggen 1993; Bumke 1986; Bumke 1994; Dörrich 2002; Philipowski 2000; J.D. Müller 2003; Ragotzky / Wenzel 1990; Schmitt 1992; Schreiner / Schnitzler 1992); notwendig ist überdies die Einbeziehung ethnologischer und soziologischer Forschungen zum Thema "Zeremoniell" und "Ritual", da diese wichtige Einsichten in die generelle Struktur und Funktion nonverbaler Akte der Kommunikation vorgelegt haben (Vgl. u.a. Van Gennep 1986; Turner 1969; Turner 1982; Fischer 1981; Gephart 1994; Goffman 1971).
  • Die Erkenntnis, dass gerade die gezielten Referenzen auf die Zeichenwelt der Höfe die Grundlage einer narrativen Strategie bilden, macht überdies klar, dass ein Interesse an Kulturgeschichte keineswegs mit einer Missachtung der Literarizität einhergehen muss; im Gegenteil: Eine historisch angemessene Würdigung der mittelhochdeutschen Literatur ist nur dann möglich, wenn beides, die Einbettung in historische Kontexte und die Analyse der literarischen Struktur geleistet werden kann. Für die letztere müsste dann stärker als bislang geschehen das Beschreibungsinventar der klassischen und neueren Erzähltextanalyse herangezogen werden (Vgl. Genette 1994; Greimas 1970; Hübner 2003; Lotman 1989; Martinez / Scheffel 2003; Propp 1975; Nünning 1995); außerdem müssten die Forschungen zur literarischen Funktionalisierung der Körpersprache (Korte 1993; Krause 1992) und zum literarischen Raum aufgegriffen werden (Lienert 1997; Mentzer 2001).


     Eine solchermaßen an philologischen wie an kulturwissenschaftlichen Methoden orientierte Lektüre zeigt hochinteressante Konvergenzpunkte zwischen der Zeichenwelt des Sozialen und der Poetik der Texte auf; überdies können die am Beispielfall des Nibelungenliedes gewonnenen Verfahren und Ergebnisse dann auf andere großepische Texte des 12. und 13. Jahrhunderts ausgeweitet werden (u.a. auf Hartmanns von Aue, Erec und Iwein; Wolframs von Eschenbach, Parzival und Willehalm; auf die Kudrun und andere heldenepische Texte des 13. Jahrhunderts). Zu fragen wäre, wie sich auch anderwärts die Spielregeln, die zur Gestaltung sozialer Kontakte entwickelt worden sind, für die Bedeutungsproduktion der Texte und ihre eigentümliche Poetik genutzt werden, und ob sich dabei evtl. genretypische Differenzen (etwa zwischen Heldenepos und Artusroman) ergeben.

 

Körperzeichen zwischen Mittelalter und Moderne – Zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes in der Neuzeit

Wenn gerade diese Konvergenz von sozialer Praxis und Poetik als ein charakteristisches Merkmal der mittelalterlichen Texte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit erscheint, so ist es ein nahe liegender Gedanke, gerade im veränderten Umgang mit der Präsentation von Körperzeichen eine entscheidende Differenz zwischen Mittelalter und Moderne zu sehen. Diese allgemeine Überlegung lässt sich sehr gut an der Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes konkretisieren. Gerade die prominenten Neubearbeitungen des Stoffes (die Nibelungen-Dramen von Friedrich Hebbel oder Moritz Rinke, Wagners Ring oder Fritz Langs Nibelungen-Film) beziehen ihren literarischen Reiz nicht zuletzt aus der Körperpräsenz der Akteure. Da jedoch die spezifisch mittelalterlichen Körperzeichen von den Adressaten des 19. – 21. Jahrhunderts oftmals nicht mehr verstanden werden können, müssen sie in den Adaptationen entweder gestrichen oder durch zeitgenössische Körpersignale ersetzt werden. Dabei gilt, dass die ersatzweise eingeführten Zeichen eine doppelte Aufgabe erfüllen müssen: Sie sollen einerseits den Eindruck des scheinbar Geschichtlichen und des Fremden erzeugen (etwa durch systematische Rückgriffe auf eine populäre Historiographie und Ethnologie), andererseits müssen sie aber von den zeitgenössischen Diskursen der nonverbalen Kommunikation (beispielsweise von den Pathos-Formeln des Theaters) her decodierbar sein. Der Vergleich zwischen den Köperzeichen des Nibelungenliedes und seiner Neubearbeitungen kann also nicht nur aufzeigen, wie sich ein mittelalterlicher Stoff unter den Bedingungen der Neuzeit verändert, er verdeutlicht überdies, dass die Alterität des Vergangenen zu der Konstruktion eines Mittelalter-Bildes führt, das auf der eigentümlichen Mischung von Eigenem und Fremden und der Amalgamierung von Elementen aus ganz unterschiedlichen zeitgenössischen Diskursen beruht.

 

Dissertationsthemen

 

1. Die Funktionalisierung nonverbaler Zeichen: Zur Poetik des Nibelungenliedes zwischen einer Kultur der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit

2. Küsse, Träne und Umarmungen: Adelige Zeichenwelten und die Poetik der mittelhochdeutschen Epik.

3. Die "Erfindung" des Mittelalters im Nibelungen-Film von Fritz Lang.

4. Fremdgewordene Zeichen: Die Streichung und Umcodierung mittelalterlicher Körperzeichen in der Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes