Transkulturelle musikalische Inszenierungsstrategien und die Musikgeschichtsschreibung von Kulturkontakten im 20. Jahrhundert

Prof. Dr. Hartmut Möller

Wie keine andere Kunstform kann die Musik dabei helfen, kulturelle Gegensätze zu überwinden. Doch dieser Allgemeinplatz mag eher Ausdruck einer Hoffnung als das Ergebnis konkreter Situationsanalysen sein, denn Musik kann auch kulturelle Gegensätze schaffen. Verbote von Musik und Instrumenten ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte; erst als jüngst in Afghanistan die Talibanherrschaft gebrochen war, durften wieder Instrumente erklingen. Weder im Kleinen noch im Großen gibt es die 'eine' Musikkultur als vermeintlich homogene, in sich geschlossene Einheit. Die Konfliktlinien verlaufen vielmehr überall durch die einzelnen Familien, Generationen, Konzertstätten und Institutionen. Sie werden bestimmt von allgemeinen Wert- und Ordnungsvorstellungen, von unterschiedlich ausgeprägtem Toleranzvermögen und ästhetischen Gewohnheiten. Musikalische Texte und Aufführungen sind daher auch als ein wichtiger Ausdruck kultureller Verfasstheit zu verstehen.
     Kontakte zwischen außereuropäischen und europäischen Kulturen im Bereich von Musik, Musiktheater und Filmmusik sind im 20. Jahrhundert von großer Vielfalt. In Europa reichen sie von der Rezeption indonesischer Gamelanmusik, japanischer Melodien und des amerikanischen Jazz durch europäische Komponisten, der Verbreitung amerikanischer Modetänze über die Aneignung afrikanisch-amerikanischer Popularstile oder das Wirken koreanischer Komponisten in Westeuropa bis zu unterschiedlichsten Mixing- und Sampling-Techniken in der globalisierten Popmusik. Außerhalb Mitteleuropas kam es zu so unterschiedlichen Erscheinungen wie Paul Hindemiths Wirken in der Türkei, der Rezeption europäischer Komponierweisen sowie amerikanischer Popularstile in so diversen Ländern wie Japan und Armenien sowie zu hybridisierenden Aneignungsweisen europäischer Kunstmusik (von "Bach in Lambarene" zur Neue-Musik-Rezeption in Korea). Wurden Anfang des 20. Jahrhunderts im Traum einer "Verschmelzung von Orient und Okzident" Lösungsmöglichkeiten für eine krisenhafte Situation der europäischen Musik imaginiert, beschäftigt Anfang des 21. Jahrhunderts das Konzept der "Glokalisierung" die Globalisierungsforscher – der Gedanke nämlich, dass die Globalisierung erst "im Kleinen, Konkreten, im Ort, im eigenen Leben, in kulturellen Symbolen" fassbar werde (Beck 1997, 91). Das kann dazu führen, dass es bei den unterschiedlichen Verbindungen, Überschneidungen und Verschmelzungen globaler und lokaler Elemente zu "glokalen Kulturen" zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch zu Phänomenen eines "glocal clash," eines im Lokalen stattfindenden Konfliktes globaler Kulturen, kommen kann (Villányi/Witte 2004).
     Der Forschungsschwerpunkt nähert sich dem Thema 'Kulturkontakte' aus zwei Perspektiven: zum einen hinsichtlich transkultureller musikalischer Inszenierungsstrategien in Musik, Musiktheater und Filmmusik des 20. Jahrhunderts, zum anderen hinsichtlich der Musikgeschichtsschreibung von Kulturkontakten in diesem Zeitraum. Die Musikwissenschaft zählt zusammen etwa mit der Romanistik oder der Kunstgeschichte zu den Fächern, die den 'performative turn' erst sehr spät und nur sporadisch in seiner möglichen Wirksamkeit erkannt haben. Während sich in den Theaterwissenschaften längst eine Auffassung von "Aufführungen als Texte" durchgesetzt hat, ist im Bereich der Musik und des Musiktheaters der Werk- und Partiturbegriff als letzte auktoriale Instanz beibehalten – so als ob z.B. die Partitur einer Oper alle Sinnpoteniale und Möglichkeiten einer Inszenierung einschlösse und die Aufführung lediglich dem Bereich der Wirkung angehöre. Erst im Kontext des Schwerpunktprogramms "Theatralität als kulturelles Modell für die Kulturwissenschaften" (1995ff) ist ausgehend vom DFG-Projekt "Inszenierungsstrategien von Musik und Theater und ihre Wechselwirkungen" des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Bamberg ein veränderter Begriff von Theatralität in einer Reihe von Studien zur Anwendung gekommen (siehe Zenck 2003). Auf der Bühne, in anderer Weise im Film, haben Körper eine doppelte Verfasstheit, sie sind "Zeichen-Körper, semiotische Körper" (Fleig 2000, 12). Körper-Inszenierungen sind eng mit kulturellem Wandel verbunden und untrennbar von den spezifischen Körper-Bildern einer Zeit. Ziel des Forschungssschwerpunktes ist es, diese veränderten Perspektiven von "Theatralität" auch für die Frage nach der Entwicklung von Kulturkontakten im 20. Jahrhundert fruchtbar zu machen (Barba 1995, Pavis 2003). Wenn Partituren, Operntexte und Filmskripts als eingefrorene Handlungen zu verstehen sind, ist zu untersuchen, welche Erfahrungen von Kulturkontakten und von sich verändernden Umgangsweisen mit ihnen in ihnen enthalten sind – von Milhauds "La Creation du Monde" über Messiaens indische Rhythmen zu Rihms "Eroberung Mexikos" und weiteren Werken. Genauso ist vor dem Hintergrund von Globalisierung und Ethnisierung nach deren musikalischen Manifestationen, z.B. in orientalistischen Filmmusiken oder musikalischen 'Kreolisierungen' in unterschiedlichen Bereichen der Populären Musik, zu fragen.
     Das historiographische Verständnis der Musikwissenschaft war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein von einem holistischen Kulturverständnis geprägt, das die Musiklandschaft der Erde als Nebeneinander geschlossener Kulturkreise verstand. In der deutschen Musikgeschichtsschreibung dominierte die Auffassung von der Sonderstellung der Abendländischen Musik und ihrer Geschichtslogik, gestützt auf eine hegelianisch geprägte Geschichtsphilosophie (Eggebrecht 1991; kritisch Karbusicky 1995). Erst seit den 60er Jahren wurde damit begonnen, musikalische Akkulturationsprozesse in den Blick zu nehmen, mit dem Schwerpunkt auf interkulturelle Auseinandersetzungen mit dem 'Westen' (z.B. Nettl 1985). Vorstellungen von Praktiken der kulturellen Collage/Bricolage und Identitätspatchworks sowie von "musical transculturation and syncretism" erreichten die Ethnomusikologie erst zu Beginn der 90er Jahre (Kartomi 1987, Slobin 1992). Im deutschsprachigen Bereich erschien eine erste Studie zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption zwischen 1870 und 1933 erst Ende der 90er Jahre (Revers 1997), wenig früher erschienen Studien zur Funktion der Jazz-Rezeption in Werken von Debussy bis Bernstein und Bernd Alois Zimmermann (Schatt 1995). 2003 wurden erstmals Untersuchungen zur Hybridisierung der Musik einer Migrantenkultur in Deutschland vorgelegt (Greve 2003).
Zentrale Fragen in diesem Bereich sind: Mit welchen musikgeschichtlichen Erzählmodellen und welchen theoretischen Modellen reagierte die deutsche (und europäische) Musikgeschichtsschreibung auf die vielfältigen Kulturkontakte? In welcher Weise haben sich diese Modelle im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert? In welcher Weise lassen sich die in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Disziplinen erarbeiteten neueren Konzepte für die Erforschung des Zusammentreffens verschiedener Kulturen (Stichworte Transformation, Kulturtransfer, Hybridisierung u.a.) in die Musikgeschichtsschreibung integrieren? Welche "anderen" Musikgeschichten werden dadurch möglich?

 

Themenbereiche für Dissertationen

  1. Inszenierung von Kulturkontakten.
    Beschreibung und Analyse von exemplarischen Partituren, Operntexten, Filmskripts, medialen Aufzeichnungen von Aufführungen etc. Frage nach Konstruktion und Dekonstruktion musikkultureller Differenz, von Fremdem und Eigenem, Entstehung komplexer Identitäts-Patchworks.

  2. Kulturkontakte und Musikgeschichtsschreibung.
    Untersuchung von konkreten Situationen des Kulturkontakts im Bereich der Musik des 20. Jahrhunderts im Spiegel ihrer musikgeschichtlichen Darstellung (deutsch, englisch, französisch, amerikanisch, u.a.) unter wissenschaftshistorischen und -theoretischen Gesichtspunkten. Diskussion und Anwendung alternativer Konzepte für die Musikgeschichtsschreibung; z.B. New Historicism (die Arbeiten von Greil Marcus).

  3. Ebenen der Musikkultur.
    Auseinandersetzung mit dem Konzept superculture/subculture/interculture von Mark Slobin (1992) und Anwendung auf ausgewählte Situationen der europäischen Musikgeschichte des 20. Jhs.

  4. Globalisierung-Glokalisierung im Bereich der Popularmusik
    Globalisierungen von Orten, Zeiten und Programmen für Musik: Kontaktzonen im Schnittpunkt von Orten, Zeiten und Programmen, die zugleich Repräsentationsfunktionen haben.
    Globales im Lokalen, am Beispiel eines exemplarischen Bereichs der Popularmusik in Deutschland (z.B. Hip Hop in den verschiedenen Migrantenkulturen).