Vom Exil zur Diaspora: Intellektuelle Migration zwischen Lateinamerika und Europa

Prof. Dr. Nikolaus Werz

Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der intellektuellen Diaspora schlechthin. Namhafte Kulturwissenschaftler und Schriftsteller leben und arbeiten außerhalb  ihres Geburtslandes; die Erfahrung von Exil und Heimatlosigkeit haben ihr Denken maßgeblich geprägt. Intellektuelle wie Edward Said (1999, 2000),  Tzvetan Todorov (1998), Salman Rushdie (1991) oder Julio Cortázar (1967,  1984) gehen so weit, den Verlust, aber auch die Aufgabe von festen Heimatverankerungen  als Grundlage einer neuen Erkenntnisperspektive zu formulieren, die es ermöglicht,  das politische und kulturelle Leben mit 'exzentrischem' Blick – abseits  von nationalen Zugehörigkeitsverpflichtungen – zu verfolgen und zu  analysieren.
Dieser Forschungsschwerpunkt untersucht einen besonderen Fall dieser Diaspora: die intellektuelle Migration zwischen lateinamerikanischen Staaten und Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg mit einem Schwerpunkt in den neunziger Jahren und dem beginnenden 21. Jahrhundert. Nachdem im 20. Jahrhundert die Migrations¬bewegungen (nicht nur von Intellektuellen, obwohl diese hier eine zentrale Rolle gespielt haben) zwischen Lateinamerika und Deutschland unter dem Zeichen des Exils (des deutschjüdischen Exils nach Lateinamerika in der NS-Zeit, des Exils von Nationalsozialisten nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, des lateinamerikanischen Exils nach Europa und Deutschland während der Militärdiktaturen im Cono Sur und in Zentralamerika in den 70er und 80er Jahren), oder aber des politisch fundierten Austauschs zwischen Kuba (später auch Chile und Nicaragua) sowie den sozialistischen Ländern Europas stand, tragen seit den 90er Jahren Phänomene der Transnationalisierung sowie der "Globalisierung von unten" zu einer Veränderung und Erweiterung des Spektrums von Kulturkontakten zwischen Europa/Deutschland und den lateinamerikanischen Ländern bei. Die neueren Migrationsbewegungen erfolgen fernab von dem überhöhten Gedanken eines Kulturaustausches im alten Sinne, aber auch von politischen Verfolgungen, und sie finden oft ohne institutionelle oder kulturpolitische Begleitung statt, obwohl diese im Fall der intellektuellen Migration immer noch eine wichtige Rolle spielt, die es im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Forschungsschwerpunkts ebenfalls zu erforschen gilt (offizielle Austauschprogramme von Studierenden und Wissenschaftlern, Kulturpolitik der Auswärtigen Ämter, Botschaften und Kulturinstitute etc.).

Der Forschungsschwerpunkt untersucht in vergleichender Perspektive die Entstehung und den Verlauf dieser neuen bzw. veränderten diasporischen Gemeinschaften anhand ausgesuchter lateinamerikanischer Communities in Deutschland (z.B. Rostock, Hamburg, Frankfurt/M., Berlin) und fragt u.a. nach der Entwicklung ehemaliger Exilgemeinschaften nach dem Ende der Militärdiktaturen sowie ehemaliger politischer Migrantengruppen in sozialistischen europäischen Ländern/der DDR nach dem Ende der Ost-West-Teilung. Der Vergleich zwischen lateinamerikanischen Gemeinschaften in Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern, insbesondere Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Schweden, bietet sich hier als wichtige Ergänzung an. Eine entsprechende Untersuchung für die Universität Leuven (Belgien) liegt vor (Moews 2002). Die Beschäftigung mit dem Leben lateinamerikanischer Intellektueller in Deutschland bettet sich ein in umfangreichere Überlegungen über die Entstehung intellektueller Diasporas, die Netzwerkbildung zwischen verschiedenen diasporischen Gruppen sowie deren signifikanten Beitrag zu kulturellen Veränderungen sowohl in den Gastländern als auch im Heimatland.

Gefragt wird unter anderem nach dem Einfluss lateinamerikanischer Intellektueller auf die Entwicklung der Lateinamerikastudien an deutschen Hochschulen seit den siebziger Jahren; in Verbindung mit dem FS 5 kann in diesem Zusammenhang auch die Präsenz lateinamerikanischer Literaturen in deutscher Übersetzung im Zeitraum 1970-2005 untersucht werden. Andersherum ist auch der Einfluss der lateinamerikanischen intellektuellen Diaspora in Deutschland auf Entwicklungen in den Heimatländern unter den Aspekten eines gegenseitigen Kulturtransfers und in breiterem Sinne von Transkulturation zu untersuchen; auch hier ist eine Verbindung zum FS 5 vorgesehen.

Die Befragung von nach Lateinamerika zurückgekehrten Wissenschaftlern und Schriftstellern und solchen, die in Deutschland inzwischen etabliert sind und aktive Verbindungen zu ihren Heimatländern oder zu anderen lateinamerikanischen Ländern aufgebaut haben, soll es möglich machen, vorhandene Netzwerke zu erforschen und gegebenenfalls daraus entstehende Wissenschaftsdiskurse zu analysieren. Eine Bestandsaufnahme der Regionalforschung der Universitätsfächer im deutschsprachigen Raum zu Lateinamerika liegt vor (Werz 1992; vgl. Kohut, Briesemeister, Siebenmann 1996). Da dieser Kulturkontakt aus der Sicht der Akteure selbst bzw. aus lateinamerikanischer Perspektive kaum behandelt wurde, soll der Forschungsschwerpunkt hier einen zentralen Beitrag leisten.

Ein weiterer wichtiger Teil des Forschungsschwerpunkts konzentriert sich auf Kultur- und Wissenschaftskontakte am Beispiel lateinamerikanischer Studierender im deutschsprachigen Raum. An umfangreiche Vorarbeiten zur Lateinamerikanistik in Deutschland kann dabei angeknüpft werden. Aufgrund der Institutionalisierung der Lateinamerikawissenschaften an der Universität Rostock in der DDR bilden die hiesigen Buchbestände eine wichtige Ergänzung zum Bestand des Ibero-Amerikanischen Institutes Berlin, der für diesen Forschungsschwerpunkt genutzt werden kann. Zur Durchführung entsprechender Dissertationsprojekte sind umfangreiche empirische Datenerhebungen über die Wanderungsbewegungen lateinamerikanischer Intellektueller notwendig. Gesichtet werden müssten zum einen die Studentenkarteien der ausgewählten Universitäten, um Aufschluss über Anzahl der lateinamerikanischen Studierenden sowie Beginn, Länge, Richtung und Erfolgsquote ihres Studiums zu erhalten. Darüber hinaus bergen die Archive kirchlicher und politischer Stipendienorganisationen, Alumni-Organisationen in den jeweiligen Heimatländern, aber auch der GTZ und der lateinamerikanischen Studentenvereinigung AELA (Asociación de Estudiantes Latinoamericanos), verwertbares Material. Noch wichtiger ist jedoch die Kontaktaufnahme mit ehemaligen Studierenden und Lehrenden selbst, die Anfertigung von entsprechenden Fragebögen und deren Auswertung. Neben der empirischen Bereicherung des Wissens über eine Kulturkontakterfahrung, die alle beteiligten Länder nachhaltig beeinflusste und aus deren Kulturgeschichte gar nicht hinweg zu denken ist, können die Dissertationsprojekte auch hochinteressante autobiographische Dokumentationen erstellen und so einen wichtigen Beitrag zur o.g. Diskussion über Exil und Diaspora als intellektuelle 'Lebensentwürfe' leisten (vgl. FS 4).

Mit Blick auf die Migration von Studierenden und Wissenschaftlern und die sich daraus ergebenden Wissenschaftsbeziehungen sind folgende Arbeitsschritte vorgesehen:

1.) Rezeption der Beiträge deutscher Wissenschaftler in Lateinamerika – Rezeption lateinamerikanischer wissenschaftlicher Beiträge im deutschsprachigen Raum

2.) Deutsche Wissenschaftler in Lateinamerika – Lateinamerikanische Wissenschaftler in Deutschland

3.) Akademische Karrieren lateinamerikanischer Studierenden und Netzwerkbildung im Zeichen des Lateinamerikanismus bzw. internationaler Solidaritätsbewegungen und danach (Entwicklungen seit den siebziger Jahren)

4.) Vom brain drain zum brain gain? Eine Bestandsaufnahme des Wandels der Studierenden- und Stipendienzahlen von Nachwuchswissenschaftlern aus Lateinamerika seit den siebziger Jahren (Befragung der Stipendienwerke und Mittlerorganisationen).

5.) Eine Analyse von Alumni-Organisationen der Rückkehrer in den Heimatländern

6.) Vom Exil zur Diaspora: Die Entstehung einer lateinamerikanischen Diaspora in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Beziehungen zum Wissenschafts- und Hochschulbereich sowie zu ähnlichen europäischen Formationen.

 

Dissertationsprojekte:

  1. Kulturkontakt und Wissenschaftsbeziehungen zwischen deutschen Universitätsstädten  (Berlin, Hamburg, Rostock) und Lateinamerika (Kuba, Chile, Argentinien, Mexiko)  zwischen 1970 und 2005
  2. Deutsche Wissenschaftler in Lateinamerika: Wirkungen und Wirkungs¬geschichte  seit dem Exil der dreißiger und vierziger Jahre
  3. Kulturkontakt und Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland (BRD und  DDR) und Kuba
  4. Auslandsstudium, Politisierung und Kultur: Organisationen lateinamerikanischer  Studierender in Deutschland