Tagung der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte vom 10.-13. September 2019 in Rostock

Der französische Historiker Michel Winock veröffentlichte erstmals 1997 sein Buch über das 20. Jahrhundert als „siècle des intellectuels“. Er sieht den Anfang bei Emile Zolas berühmtem Briefkommentar von 1898 zur Dreyfuss-Affäre, unter dem appellativen Titel „J´accuse“. Dass er vor allem die erste Jahrhunderthälfte behandelt und sich ausschließlich auf Frankreich bezieht, ist in der Kritik bemängelt worden. Die selbstverständliche Zuordnung von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern als Intellektuelle wurde hingegen allgemein geteilt.

Als 2017 der amtierende deutsche Bundespräsident die Ehrendoktorwürde an der Paris-Sorbonne erhielt, fragte die Presse, ob mit ihm tatsächlich der Staatschef oder nicht eher die Person eines Intellektuellen geehrt würde. Gegen Ende des Jahres 2018 erschien in der deutschen Presse eine Interviewreihe unter dem Titel „Intellektuelle kommentieren“, mit Bezug auf den eskalierten Protest der sogenannten Gelbwesten in Paris. Philosophen und Politiker äußerten sich zu den Ereignissen. Sie waren als bekannte Persönlichkeiten angesprochen worden; was sie dazu qualifizierte, als Intellektuelle zu gelten, blieb unerwähnt, als verstünde es sich von selbst.

Anders als Experten, die um Sachauskünfte und fachliche Interpretationen gebeten werden, sind Intellektuelle für Kommentare mit einem allgemein weiten, wissensbasierten Zugriff und einer systematischen Kontextualisierung der jeweiligen Situation gefragt. Experten ermöglichen tiefere Einsichten und Erkenntnis, Intellektuelle öffnen das Verständnis und bieten kritische Interpretationen an. Intellektuelle sollen sich gerade nicht aus ihrem jeweils eigenen Fachgebiet äußern, in dem sie als Experten gelten mögen, sondern dessen Grenzen überschreiten und einen das Verständnis aufschließenden, vielleicht sogar prognostisch weiterführenden Kommentar zum Zeitgeschehen geben. Das unterscheidet sie von Experten und erweist sie als Intellektuelle.

Der Typus eines/einer Intellektuellen bezeichnet allerdings weder einen Status noch eine Funktion, sondern eine soziale Rolle, die jeweils situativ definiert ist, also ein Zuschreibungsphänomen darstellt und keine spezifischen Erwartungen an Kompetenzen oder Strategien ausdrückt. Deshalb ist die Konjunktur der Intellektuellen vor allem von den Kontextbedingungen ihrer Zeit abhängig: Herrscher in der Vormoderne sammelten zunehmend Experten für die Klärung von Sachfragen um sich und suchten zugleich erfahrene und gebildete Männer, zunächst gelehrte Geistliche, dann zunehmend studierte Juristen oder Theologen, für die politische und ethische Beratung zu gewinnen, wie sie in Entscheidungssituationen erforderlich war. Ihr Rat ging weit über eine fachliche Expertise hinaus. Sie können insofern als Intellektuelle in der vormodernen Gesellschaft verstanden werden. Der Begriff existierte allerdings in der Vormoderne noch nicht.

Im Gegenzug hat das unvermeidliche, sogar erwünschte kritische Potential in den Kommentaren von Intellektuellen diese zu allen Zeiten als vermeintlich praxisferne Theoretiker oder subversive Nonkonformisten vielfach verdächtig gemacht. Ihre Präsenz an den Höfen und im Rahmen teilöffentlicher Foren sicherte ihnen schon in der Vormoderne Aufmerksamkeit und ihre mediale Sichtbarkeit zeigt sie in modernen pluralen Gesellschaften als Element der Meinungsbildung in der Öffentlichkeit. In dieser Rolle ist einigen Intellektuellen gerade in der jüngeren Vergangenheit mitunter mangelnde politische Verantwortung, sogar Dienstbarkeit gegenüber Autoritäten vorgeworfen und ebenso anderen eine besondere Bedeutung in der Kritik an oder sogar dem Widerstand gegen politischen Machtmissbrauch zugute gehalten worden (Ralf Dahrendorf). Die Beurteilung des/der Intellektuellen ist ebenso ambivalent wie ihre Rolle.

Können Sie sich als kritische Zeitkommentatoren angesichts der Informationsflut, der medialen Vielfalt und der neuen Tendenz zum Einsatz von „fake news“ noch behaupten, werden sie gehört oder reduziert sich ihre öffentliche Wirkung auf die eigene Inszenierung? Aktuell wird die Stimme der zwischenzeitlich marginalisierten „Wissenschaftsintellektuellen“ wieder gefordert (Caspar Hirschi)!
Ihre Herkunft aus Wissenschaft oder Universität, ihre disziplinäre Fachzugehörigkeit oder ein akademischer Bildungsgrad schienen lange für ihre Anerkennung als Intellektuelle keine gewichtige Rolle zu spielen und nur selten sind Wissenschaftler in ihrem Fachgebiet als „intellectual giants“ (James Clerk Maxwell über Hermann von Helmholtz) bezeichnet worden. Im Umkehrschluss können Repräsentanten von akademischen Qualifizierungsfeldern oder Universitätsangehörige nicht zwangsläufig als Intellektuelle gelten. Was also waren und sind Intellektuelle, welche Bedeutung hat ihre persönliche Bildung oder eine akademische Qualifikation für ihre gesellschaftliche Anerkennung und wie entwickelte sich deren Rollenbild im und seit dem Mittelalter in den europäischen Ländern?

Tatsächlich galten die frühesten Forschungen zum Thema dem Mittelalter. Bereits 1957 erschien Jacques Le Goffs legendäres Buch „Les intellectuels au Moyen Age“. Eine genaue Begriffsdefinition war damit nicht verbunden und wurde auch in der umfangreichen Rezeption des Werkes nicht erreicht. Eine analoge Beschreibung der gebildeten Funktionselite durch Jacques Verger genau vierzig Jahre später stand unter dem Titel „Les gens de savoir“.

Eine direkte Übersetzung des Buchtitels von Verger ins Deutsche ist kaum möglich, weil die Bezeichnung „gens de savoir“ einen höheren Wissenstand gekennzeichnet als „erudits“ (Gebildete) und einen anderen, geringeren oder weniger spezifischen als „savants“ (Gelehrte) und weil das Deutsche keine derartige Zwischenkategorie kennt. Hingegen scheint der Begriff des/der Intellektuellen/intellectuel(le) allgemein verständlich zu sein – vielleicht gerade wegen seiner relativ offenen Semantik und der sozial und situativ bedingten Kontextualität seiner Verwendung. Unterschiede in Verständnis und Verwendung des Intellektuellenbegriffs sind dennoch – so schon zwischen Frankreich und Deutschland heute – erheblich. Verbindend dürfte hingegen bleiben, dass die Bezeichnung „Intellektuelle/r“ nicht als Selbstbezeichnung funktioniert, sondern nur als (zumeist positiv konnotierte) Zuschreibung in der Gesellschaft.

Ob der Typus des/der Intellektuellen angesichts des medialen Wandels und des Rückgangs der Lesekultur in unserer Zeit noch eine Zukunft hat, ist eine ebenso offene Frage wie diejenige nach dem Wandel dieses Typus in den Jahrhunderten der europäischen Geschichte. Als bislang häufig implizit mitgedachter, aber nahezu niemals systematisch reflektierte Typus waren die Intellektuellen ein festes, zunehmend nachgefragtes Element auch vormoderner Gesellschaften und nicht erst des 20. Jahrhunderts. Begrifflich ist er erst in der späteren Moderne festgelegt, aber dennoch bis heute kaum zum Gegenstand diachron wie synchron vergleichender historischer Studien geworden. Nach dem Typus des/der Intellektuellen in den gesellschaftlichen Kontexten ihrer Zeit zu fragen, führt Perspektiven der Wissensgeschichte und der Intellectual History, der Universitätsgeschichte wie der Sozial- und politischen Geschichte, auch der Genderstudies, in der Erforschung gesellschaftlicher Wertsetzungen und Rollenzuschreibungen zusammen.
Daraus und im Kontext aktueller kulturwissenschaftlicher Diskurse ergeben sich für die Tagung daher folgende Fragehorizonte: Lassen sich Entstehung und Wirkung des Typus des/der Intellektuellen innerhalb der europäischen Geschichte auf bestimmte chronologische Epochen oder Jahrhunderte beziehen? Welche Begrifflichkeiten wurden dafür verwendet und in welchen Situationen fanden sie Anwendung? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten lassen sich in der Ausformung des Typus in den Gesellschaften der Vormoderne, Moderne und Gegenwart feststellen? Inwiefern ist eine universitäre (akademische) Bildung oder allgemein eine wissensbasierte Qualifikation Voraussetzung für die Zuschreibung zum Typus des/der Intellektuellen? An welcher Stelle der gesellschaftlichen Bewertung sind Intellektuelle von Gebildeten oder Gelehrten abzusetzen und welche Rolle spielen formale Qualifikationen oder Graduierungen dabei? Wie unterscheidet sich die fachliche Expertise von der überfachlichen, öffentlichen Wirkung eines/einer Intellektuellen und inwieweit sind Konkurrenzen festzustellen? Wenn der Typus des Intellektuellen ein Zuschreibungsphänomen darstellt, wird der/die Intellektuelle dann als individuelle Persönlichkeit oder als Repräsentant/in eines Kollektivs verstanden? Lassen sich schließlich außerhalb der abendländischen Kultur vergleichbare Typisierungen identifizieren oder sind Intellektuelle und die Zuschreibung ihres Typus ein Phänomen der europäischen Geschichte?

Die Rostocker Tagung der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte stellt sich diesem Thema und seiner besonderen historischen wie aktuellen Bedeutung in Vorträgen und Diskussionen innerhalb eines international profilierten Kreises an Mitwirkenden.

Weiterführende Lektüre:

  • Intellektuelle, hrsg. v. Hans-Georg Golz (Aus Politik und Zeitgeschichte, 40/2010. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament).
  • Was ist ein Intellektueller? Rückblicke und Vorblicke, hrsg. v. Richard Faber, Würzburg 2012.
  • Günther Rüther, Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945, Göttingen 2016.
  • Humanisme et politique en France à la fin du Moyen Age, hrsg. v. Carla Bozzolo, Claude Gauvard, Hèlène Millet, Paris 2018 (Troisième partie: La pensée politique des intellectuels, S. 171-233).


Kontakt:

Historisches Institut
Universität Rostock
Neuer Markt 3
18055 Rostock

E-Mail / Ansprechpartner der Tagung:
wolfgang-eric.wagneruni-muensterde


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