Religionskontakt und interreligiöse Transformationsprozesse: Religionswissenschaftliche und theologische Modellbildungen

Prof. Dr. Klaus Hock

Die Beschäftigung mit Religionswandel, Religionskontakten und Transformationsprozessen im interreligiösen Kontext gehört zu den zentralen Aufgaben religionswissenschaftlicher und theologischer Forschung. Die genannten Phänomene haben im Zusammenhang mit der komplexen Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Religion vor dem Hintergrund einer von Ambivalenzen und Widersprüchen gekennzeichneten Globalisierung (Beyer 2001; 2007; Hopkins 2001; Mische/Merklin 2001; Geertz 2008; Csordas 2009) und transnationaler Migrationsbewegungen (Hüwelmeier 2010; Tiefensee/Kraft 2010) eine zusätzliche Dynamisierung erfahren.
Theologische Wissenschaftsdiskurse haben insbesondere im Kontext der Interkulturellen Theologie unter Kategorien wie Adaption, Indigenisierung, Kontextualisierung etc. (vgl. u. a. Kollbrunner 1990; Küster 1995; Frei 2000; Bevans 2002; Collet 2002) vornehmlich konzeptionelle Fragen nach der "Übersetzung" der christlichen Botschaft und der Verhältnisbestimmung von "Kultur und Evangelium" zwischen Globalisierung und Lokalisierung verhandelt (Schreiter 1992; 1997; Ahrens 1997; Scherer/Bevans 1999; Pedersen et al. 2002). Dabei wurden nach und nach Modelle, die von einer gewissen Hierarchisierung (Adaption, Akkommodation) oftmals essentialistisch verstandener Größen (Inkulturation, Inkarnation) ausgingen, abgelöst durch mehr dialogisch-multilateral orientierte, nicht-hierarchische Modelle (Kontextualisierung, Kommunikation) (vgl. hierzu bsplsw. Mortensen 2003). Zudem ließ sich eine verstärkte Hinwendung zu kulturwissenschaftlichen Kategorien und Interpretationen feststellen (Mission und Migration 2005) – ein Phänomen, das nicht auf missions- und ökumenewissenschaftliche Diskurse begrenzt ist (z. B. Herms 1998, Schwöbel 2003).
In religionswissenschaftlichen Wissenschaftsdiskursen wurden in den letzten Jahrzehnten ebenfalls diverse Kategorien entwickelt, um religiösen Wandel und (inter-) religiöse Transformationsprozesse zu erfassen: Ambiguität und Recoupment; Konvergenz, Affinität, Translation; Demarkation, Synoikismus, Synkretismus… (Pye 1969; Lanczkowski 1971). Dabei sind bspw. aus der Diskussion über "Synkretismus" eine Reihe anspruchsvoller Modelle hervorgegangen (Berner 1982; 1991; Pye 1994), obgleich gerade gegen diesen Terminus von Beginn an große Vorbehalte bestanden (Baird 1967/68). Im Laufe der Zeit war in der religionswissenschaftlichen Debatte aufgrund der Rezeption von Theorieansätzen in benachbarten Disziplinen (Geertz 1987) eine Hinwendung zu kulturwissenschaftlichen Kategorien und Instrumentarien zu verzeichnen, was das "Ende von Funktionalismus und Religionsphänomenologie" (Kippenberg/Stuckrad 2003: 32; Flood 1999) als vorherrschende Paradigmen in der Religionswissenschaft markierte. Zugleich kam es zu einer Abkehr von vergleichsweise statisch-essentialistischen und hierarchisierenden Systematiken religiöser Wandlungsprozesse bis hin zur Behauptung einer grundsätzlichen Konstruktivität und Diskursivität religionswissenschaftlicher Kategorienbildung (Smith 1982; McCutcheon 1997; Braun/McCutcheon 2000).
Bei der Entwicklung der Wissenschaftsdiskurse in interkultureller Theologie und Religionswissenschaft lassen sich also gewisse Parallen ausmachen, insbesondere im Blick auf den in beiden Disziplinen vollzogenen cultural turn (Lackner/Werner 1999; Jahnel 2008; Nehring/Valentin 2008). Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Theoriediskussionen im Kontext der sog. Postcolonial studies und der durch sie ausgelösten Debatten (Said 1981; Turner 1974; Asad 1993; Chidester 1996; Hall 1997; King 1999; Eisenstadt 2000; Hinnells 2005), so beispielsweise hinsichtlich der indischen Religionsgeschichte (Inden 1990; Dalmia/von Stietencron 1995; Van der Veer 2001; Bergunder 2002; kritisch hierzu Osterhammel 1998), die auch in der Forschung zur indischen Missionsgeschichte fruchtbar gemacht wurden (Nehring 2003). Die relativ junge Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Migration und Religion (Smart 1987; Haar 1998; Baumann 2003), insbesondere mit Fragen religiöser Identitätsbildung zwischen Globalisierung und Lokalisierung im Spannungsfeld von Remigration und Transmigration, namentlich im Blick auf die vielfältigen Dimensionen der afrikanischen Diaspora (Gilroy 1992; Gerloff 2000; 2005; Binsbergen/Dijk 2004; Adogame/Weissköppel 2005; Adogame et al. 2008) hat zur Diversifikation der Wissenschaftsdiskurse beigetragen. Ergänzt wird dieser Wandel durch die kritische Auseinandersetzung mit Fragen von Territorialität, Kontakträumen und Entgrenzung (Pratt 1992; Smith 1993; Appadurai 1996), Hybridität (Bhabha 2000), oder mit Fragen der Konstruktion kollektiver Identitäten (vgl. u. a. Baumann 1999) – beispielsweise durch die "Erfindung" von Traditionen und die Realisierung einer entsprechenden "Identitätspolitik" (Hobsbawm/Ranger 1983; Siikala 2004). Diese Entwicklungen finden zeitgleich mit den eingangs genannten Veränderungen der religiösen Landschaft qua "Glokalisierung" statt (Robertson 1998), wie sie beispielhaft am rapiden Wachstum pentekostaler und charismatischer Bewegungen (Bergunder 1999; 2006; Coleman 2000; Corten/Marshall-Fratani 2001; Alvarsson/Segato 2003; Westerlund 2009; Währisch-Oblau 2009) sichtbar werden.
Vor diesem Hintergrund kamen sowohl in der Religionswissenschaft als auch in der Interkulturellen Theologie Modelle zur Erprobung, die auf der Einsicht beruhen, dass die komplexen Interaktionsformen zwischen Religionen als Interaktionsprozesse zwischen fluiden Phänomenen zu begreifen sind. Dies ließ sich auch durch Mikrostudien (Alsheimer 2001; 2007) und ethno-, missions-, und kulturhistorische Detailanalysen (vgl. Husman 1984; Mandelbaum 1989; Leims 1990; Jones 2003) erhärten, wobei z.T. bereits konkret auf entsprechende theoretische Konzepte wie etwa das der Transkulturation (Welsch 1994/5; 1999; Loth 2009) oder der Transdifferenz (Kalscheuer 2008) Bezug genommen wurde.
Für die zweite Projektphase werden insbesondere folgende Aspekte in den Vordergrund gestellt: Zum einen ist der akteursbezogene Ansatz des Graduiertenkollegs zu vertiefen, indem stärker die Beziehung zwischen Forschenden und Forschungsgegenstand in den Blick kommt; verfolgt wird damit jedoch keinesfalls eine "'anything goes'-Strategie, sondern eine kritische Reflektion und vor allem eine Historisierung hegemonialer Diskurse" (Bergunder 2009: 264), nicht zuletzt auch hinsichtlich der Wechselwirkung von Religionswissenschaft und Religion, von der die frühe Fachgeschichte der Religionswissenschaft geprägt war (Rohrbacher 2006). Zum anderen sind vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklungen in den jeweiligen Wissenschaftsdiskursen neue Diskursfelder zu erkunden, indem bspw. nach der "Religionsproduktivität" (Malik/Manemann 2009) im Kontext von Kulturkontakten oder nach den konzeptionellen Weiterentwicklung des Begriffs der "fluiden Religion" (Lüddeckens/Walthert 2010) gefragt wird, wobei für Religionskontakte in der Moderne die Debatte um "entangled modernities" (Randeria/Eckert 2006; Therborn 2003) als weitere Reflexionsebene einzuziehen wäre. Zum dritten soll im Blick auf Möglichkeiten und Grenzen der Integration fachübergreifender theoretischer und methodologischer Problemstellungen ermittelt werden, inwieweit es in der Religionswissenschaft denkbar ist, die aus der Anwendung "geborgter Modelle" (Koch 2007: 9) erwachsenden "divergenten Ergebnisse aufeinander zu beziehen" (10), ohne eine "neue Zentralperspektive" (11) einzunehmen, oder welche theoretischen Entwürfe es in der Interkulturellen Theologie ermöglichen, jenseits der Beschreibung kultureller Prozesse "die Verbindungen und Bruchstellen in den Blick zu nehmen, die Teil unserer heutigen Welt sind" (Schreiter 2010: 25).

 
Themenbereiche für Dissertationen

1. Erforschte Forschende: Rezeption und Konstruktion von Diskursen der Religionsforschung in der afrikanischen christlichen Diaspora
Untersucht werden soll, wie die "beidseitige Verflochtenheit von Religion und Religionswissenschaft" (F. Tenbruck) sich gestaltet und welche Rolle sie für die Konstruktion kollektiver Identitäten spielt.
2. Missionswissenschaft als interkulturelle Theologie?
An konkreten Beispielen interreligiöser Transformationsprozesse soll untersucht werden, ob, inwieweit und wodurch interkulturelle Theologie gegenüber der Missionswissenschaft ein neues Paradigma darstellt.
3. Auf der Suche nach dem "vierten Paradigma" in der Religionswissenschaft
Untersucht werden soll, ob und wie nach Evolutionismus, Phänonemologie und kulturwissenschaftlichem Pluralismus über die Befassung mit interreligiösen Transformationsprozessen eine Integration der disparaten religionswissenschaftlichen Ansätze möglich ist.